Wenn Werner Middendorf durch Neuenkirchen radelt, ist das ein vertrauter Anblick. Viele seiner Mitbürger wissen, dass der langjährige Vorsitzende der Eintracht nicht mehr ganz gesund ist. Doch was bedeutet ein Leben mit Frontotemporaler Demenz?
Montags und donnerstags: Helfen im St. Elisabeth Seniorenheim. Dienstags und freitags: Helfen bei der Essensausgabe des Ambulanten Sozialen Dienstleistungszentrums. Montags und mittwochs: Mittagessen mit ehemaligen Arbeitskollegen. Der Terminkalender von Werner Middendorf ist eng getaktet. Mindestens so viele Aufgaben hat der 60-jährige Frührentner aus Neuenkirchen an beinahe jedem Tag der Woche zu erledigen wie damals, als der Diplom-Ingenieur noch bei den Stadtwerken in Osnabrück gearbeitet hat. Bis 2005 war er dort als Leiter der Abteilung Bauwesen tätig. Seine Ideen flossen unter anderem in die Gestaltung des neuen Nettebads in der Hasestadt mit ein.
Wenn das Gefühl nicht passt
Doch dann fing die Sache mit der großen Verwirrung an. „Gehirnschrumpfung“, beschreibt Werner Middendorf die Krankheit, die bei ihm im Alter von 49 Jahren ausgebrochen ist. Manchmal scheint er nicht so recht auf seine Gefühle zugreifen zu können. Oder er greift daneben. Dann kann es vorkommen, dass er in einer traurigen Situation plötzlich laut loslacht. Hin und wieder schaltet er auch einfach komplett ab, macht dicht und lässt sein Gegenüber nicht mehr an sich heran. Vergesslich geworden ist er dagegen überhaupt nicht. Ulla Middendorf lächelt ihrem Mann zu: Tapfer. Kämpferisch. Liebevoll. Und ja – auch ziemlich erschöpft. Das, was er seine Gehirnschrumpfung nennt, haben die Ärzte als „Frontotemporale Demenz“ diagnostiziert, eine seltene Form der Demenz, über die, wie Ulla Middendorf erklärt, derzeit erst wenig bekannt ist. Deshalb liegt es ihr am Herzen, das, was sie und ihre Familie an Erfahrung mit diesem Leiden gesammelt haben, weiterzugeben.
Ein Netzwerk aus guten Freunden
„Denn je früher eine Erkrankung an Frontotemporaler Demenz festgestellt wird, desto eher können der Erkrankte und sein Umfeld ihr Verhalten an die veränderten Umstände anpassen“, sagt Ulla Middendorf. Eine therapeutische Behandlung, die den Verlauf des geistig-neuronalen Zerfalls aufhielte, gibt es derzeit noch nicht, bestätigt Dr. Guido Hermanns, Facharzt für Neurologie in Quakenbrück. Aber möglicherweise liegt in dem kleinen, akribisch durchgeplanten Terminkalender, an dem sich Werner Middendorf orientiert und dessen Arbeitsaufträge ihn durch seinen von der Krankheit verzerrten Alltag leiten, einer der Schlüssel für den bisher unerwartet milden Verlauf seines Leidens. „Als wir 2005 die Diagnose erhielten“, sagt seine Frau und atmet tief durch, „haben die Ärzte meinem Mann noch eine Lebenserwartung von etwa acht Jahren prognostiziert.“ Sie lässt ihren Blick in die Ferne schweifen. Dann berichtet sie mit fester Stimme von dem großen Fest zu seinem sechzigsten Geburtstag im vergangenen Jahr – elf Jahre nach der Diagnose, das sie gemeinsam mit ihm, den Kindern, der Familie, Nachbarn, Freunden, Vereins- und Arbeitskollegen gefeiert haben. „Ohne diese Menschen würden wir das alles gar nicht schaffen“, sagt Ulla Middendorf. Ohne das engmaschige Netzwerk aus Verständnis, Trost und Engagement, das sie miteinander bilden. Viele der Namen tauchen zuverlässig und regelmäßig in dem kleinen schwarzen Notizheft auf, das Werner Middendorf wie einen Schatz hütet und stets griffbereit bei sich trägt.
„Manchmal merke ich, wie traurig ihn das macht“
Wenn Ulla Middendorf ihren Mann, der zwanzig Jahre als Vorsitzender der Eintracht Neuenkirchen tätig war, morgens weckt, hat sie ihr erstes Arbeitspensum schon absolviert: Die 54-Jährige bedient hinter dem Tresen des örtlichen Bäckerladens: Ein paar Stunden Ablenkung. Freundliche Gespräche mit den Kolleginnen und den Kunden. Eine Portion Normalität zum Durchatmen. Bis ihr Mann sich dann später am Vormittag angezogen hat und am Frühstückstisch Platz nimmt, hat sie die gefährlichen, unverplanten Minuten, die der Terminkalender hier und da offen lässt, bereits mit tagesaktuellen Aufgaben gefüllt: Ein Paket bei der Post abgeben. Den Termin zum Haareschneiden beim örtlichen Friseur wahrnehmen. Einkäufe erledigen. Weil er mit den Wörtern und ihrer Bedeutung zunehmend Schwierigkeiten hat, klebt Ulla Middendorf dazu sämtliche Dinge, die ihr Mann besorgen soll, als kleine Bildchen auf den Handzettel. Ja, ist sie sich sicher, ihr Mann wisse, dass er krank sei und vieles deshalb nicht mehr so gut könne wie früher. „Manchmal merke ich, wie traurig ihn das macht.“ Indem sie sich immer wieder neue, immer wieder passende, zu bewältigende Beschäftigungen für ihn überlegt, hoffe sie ihm ein Gefühl von Selbstvertrauen und verbliebener Selbständigkeit zu vermitteln.
Freude über bekannte Gesichter
Werner Middendorf hat sein Honigbrot aufgegessen, die Tageszeitung durchgeblättert und dabei – sehr zu seiner Freude – einige bekannte Gesichter auf den Fotos entdeckt. Er checkt noch einmal sein Notizbüchlein, greift sich die Einkaufsliste und macht sich auf den Weg zu seinem Fahrrad. „Ich muss dann jetzt auch los“, sagt er und verschwindet ohne einen weiteren Gruß. Ulla Middendorf bleibt zurück und sieht nicht wirklich entspannt aus. „Natürlich habe ich immer die Sorge, dass etwas passieren könnte“, sagt sie. „Aber zum Glück leben wir hier in einem kleinen Dorf – und die meisten Leute kennen uns.“ Wissen, was los ist. Und helfen, wenn ihr Mann mal nicht klar kommt und Unterstützung braucht. „Das war mir damals, als wir von Werners Krankheit erfuhren, ganz wichtig“, betont Ulla Middendorf, „dass wir nicht versucht haben, unseren Zustand geheim zu halten, sondern offen auf die Menschen in unserem Umfeld zugegangen sind und sie über die Situation informiert haben.“ Die Hilfe und der Zuspruch, der ihnen daraufhin entgegen gebracht worden sei, sei überwältigend gewesen.
Feste Strukturen bieten Sicherheit
Als Ulla Middendorf sich dann später um das Mittagessen kümmert, blickt sie alle paar Sekunden aus dem Fenster. Eine Art Reflex. „Ah – da ist er wieder“, stellt sie endlich beruhigt fest, als ihr Mann mit geschäftigem Blick die Straße entlang geradelt kommt. „Nachher schaut dann ein alter Bekannter vom Sportverein für ein paar Stunden vorbei und kümmert sich um Werner“, geht sie den Tag in Gedanken durch. Anschließend nehmen ihn zwei gute Freunde zum Schwimmen mit. Und abends wartet die Kartenrunde auf ihn. Jede fixe Struktur, die ihr und ihrem Mann Sicherheit in der schleichend größer werdenden Verwirrung gibt, hat sich in den gemeinsamen Alltag eingeschliffen. Einen eigenen Notizkalender braucht Ulla Middendorf schon lange nicht mehr.
(Erschienen in: Bersenbrücker Kreisblatt, 02.05.2016)
Warum eine frühzeitige Diagnose oft schwierig ist
„Zuerst habe ich gedacht, das liege an seiner Arbeit“, erinnert sich Ulla Middendorf, „dass er so erschöpft wirkte und zuhause dann oft einfach nur auf dem Sofa lag.“ Ihr Mann habe damals als Leiter der Abteilung Bauwesen der Stadtwerke Osnabrück die Neugestaltung des Nettbads betreut. Jede Menge Verantwortung. Doch die Symptome gründeten keineswegs in einer vermeintlichen Phase kurzzeitiger beruflicher Mehrbelastung. Sie dauerten an.
Wenn das Engagement einschläft …
„Mein Mann ist ein sehr sportlicher Typ“, erzählt Ulla Middendorf. Fußballer. Skiläufer. Radfahrer. „Wenn er sonst von der Arbeit nach Hause kam, kümmerte er sich leidenschaftlich gern um den Sportverein“ – Werner Middendorf war zwanzig Jahre lang Vorsitzender der Eintracht Neuenkirchen – „oder er half bei uns im Garten mit. Wir haben alles gemeinsam gemacht.“ Doch sein Engagement schlief ein. Als ihr dann aufgefallen sei, dass er die Vereinspost nicht mehr öffnete, dass wichtige Dinge liegen blieben, machte sich Ulla Middendorf ernsthafte Sorgen. „Darauf angesprochen, reagierte mein Mann aber bloß abweisend.“ Schließlich habe eine Freundin ihr empfohlen, fachlichen Rat einzuholen. „Das war wohl der schwierigste Schritt für mich“, sagt Ulla Middendorf, „ohne meinen Mann aber wegen ihm zum Arzt zu gehen.“ Es war die richtige Entscheidung. Denn der Mediziner nahm die Situation ernst: Werner Middendorf wurde umgehend zum Facharzt überwiesen, der die entsprechenden neurologischen Test durchführte. „Die Frontotemporale Demenz ist eine seltene Krankheit, und dass sie so schnell diagnostiziert wird, ist eher ungewöhnlich“, erklärt Ulla Middendorf.
Auch das Sozialverhalten ist betroffen
Dazu bemerkt die Deutsche Alzheimer Gesellschaft auf ihrer Internetseite, dass es bei der Diagnose nicht selten zu Verwechslungen mit psychischen Störungen wie Depression, Burn-out-Syndrom, Schizophrenie oder Manie komme. „Frontotemporale Demenzen treten normalerweise früher auf als die Alzheimer-Krankheit, meistens schon zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr oder noch früher.“ Zu den Ursachen heißt es: „Die Frontotemporale Demenz ist eine Krankheit, bei der der Abbau von Nervenzellen zunächst im Stirn- und Schläfenbereich (Fronto-Temporal-Lappen) des Gehirns stattfindet. Von hier aus werden unter anderem Emotionen und Sozialverhalten kontrolliert.“
(Erschienen in: Bersenbrücker Kreisblatt, 02.05.2016)