In der Dodesheide ziehen seine Besitzer ein verlassenes Kamerunschaf per Hand auf. „Lotta immer ist da“, beschreibt Adoptivmutter Annette die Anstrengung. Und wo bleibt das Schöne? Ziehoma Elisabeth lächelt versonnen: „Lotta ist immer da.“
Es war eine kalte und dunkle Nacht …
In der Januarnacht, in der Lotta geboren wurde, herrschten Minustemperaturen. Für ein junges Kamerunschaf eigentlich kein Problem: Denn sein Fell ist dicht, und die Wärme der Mutter reicht für zwei. Aber Lottas Mutter wollte nichts von ihrem Lämmchen wissen. Sie überließ das Jungtier der winterlichen Kälte und mischte sich wieder unter die Herde, die auf der kleinen Weide gleich hinter dem Wohnhaus ihrer Besitzer in der Dodesheide graste. Lotta blieb allein zurück. „Als wir das ungewöhnlich laute Blöken gehört haben“, erinnert sich Schafhalterin Annette, „wusste ich gleich, dass etwas nicht stimmt.“ Und mit erfahrenem Züchterblick erfasste sie die Situation. Schnelles Handeln war angesagt. „Was sollten wir also tun? Das Lamm seinem Schicksal überlassen oder es mitnehmen?“ Wobei „Mitnehmen“ bedeutete: zu sich ins Haus holen. Wer Lotta heute zusieht, wie sie ungestüm über den Rasen galoppiert, weiß, wie sich Annette, ihre Mutter Elisabeth und ihr Sohn Tim entschieden haben.
Artübergreifende „Patchworkfamilie“
Die Aufgaben in der artübergreifenden „Patchworkfamilie“ waren schnell verteilt: Annette übernahm gewissenhaft die Funktion der Ziehmutter und sorgte gemeinsam mit ihrem Sohn Tim dafür, dass das Fläschchen für Lotta im Drei-Stunden-Takt mit Spezialmilch gefüllt und mäulchengerecht angereicht wurde. Familienhündin Lina fügte sich ohne zu knurren in die Rolle der großen Schwester und teilte nicht nur bereitwillig ihre Hundebox mit dem kleinen Schäfchen, sondern auch ihren Plüschteddy. Muckelig warm in den mit Heu ausgepolsterten „Indoorstall“ gekuschelt, eine Wärmelampe über und die Fußbodenheizung unter sich, verbrachte Lotta die ersten Wochen im engsten Kreise ihrer Retter. Doch die Person, die sich direkt in ihr kleines Lämmerherz schleichen und einen prägenden Einfluss auf das verlassene Schäfchen haben sollte, war und ist Ziehoma Elisabeth: Denn die 80-Jährige trägt genüsslich und mit großmütterlichem Vergnügen just jene elementare Zutat zu Lottas Gedeihen bei, über die nur Omis verfügen: den Familiennachwuchs nach Strich und Faden zu verwöhnen – mit liebevoller Zuneigung und schmackhaften Kalorien.
Zurück in die Herde!
Und wie das so ist, betrachtet Ziemutter Annette dieses ausgiebige und der Schafserziehung nicht immer zuträgliche Betüddeln hin und wieder mit Skepsis. „Lotta soll schließlich so schnell wie möglich in die Herde integriert werden“, betont sie, „wir tun dem Tier ja keinen Gefallen, wenn wir es bei uns im Haus behalten.“ Doch das zutrauliche Lämmchen nicht zu vermenschlichen, fällt schwer. Annette zückt kopfschüttelnd das Smartphone – und kann ein amüsiertes Lächeln nicht unterdrücken: Ein Foto zeigt ihre Mutter und Lotta gemütlich nebeneinander auf dem Sofa sitzend. „Ja und?“, fragt Elisabeth: „Nachmittags sehen wir eben gerne mal zusammen fern.“ Wie zur Unterstützung kommt Lotta auch schon um die Ecke geflitzt und stupst ihrer Ziehoma liebevoll gegen die Waden. Doch Elisabeth bemerkt den strengen Blick ihrer Tochter und seufzt: „Komm, Püppi“, wendet sie sich an das Schäfchen, „jetzt bringe ich dich erstmal zu den anderen zum Spielen.“ Und brav dackelt Lotta hinter ihrer Omi Richtung Schafweide. Bis zum Vorabendprogramm ist schließlich noch etwas Zeit.
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 26.03.2016)