Abenteuer Schulbus: Unterwegs auf der Linie 610

Frühmorgens um halb sieben holt die Linie 610 die Neuenkirchener Schüler ab, die die IGS in Fürstenau besuchen. Während auf der Hinfahrt ausreichend Plätze im Bus vorhanden sind, wird es später bei der Rückfahrt schon mal eng.
Frühmorgens um halb Sieben holt die Linie 610 die Neuenkirchener Schüler ab, die die IGS in Fürstenau besuchen. Während auf der Hinfahrt ausreichend Plätze im Bus vorhanden sind, wird es später bei der Rückfahrt schon mal eng. Fotos (5): Ulrike Havermeyer

Sind die Busse bei der Schülerbeförderung zu voll – oder bloß optimal ausgelastet? Die Schüler zu laut – oder nur ihrem Alter entsprechend lebhaft? Die Fahrer zu genervt – oder lediglich konzentriert bemüht, die Kundschaft sicher ans Ziel zu bringen?

Es ist dunkel. Es ist kalt. Und nieseln tut es auch. Verstohlen trete ich von einem Fuß auf den anderen und kann mir ein Gähnen nicht verkneifen. 6:22 Uhr – die rund 20 Jugendlichen, die an diesem fiesen Februarmorgen mit mir an der Haltestelle ‚Altenheim‘ in Neuenkirchen auf ihren Bus zur Integrierten Gesamtschule (IGS) nach Fürstenau warten, wirken irgendwie, nein, nicht unbedingt munterer als ich – aber definitiv härter im Nehmen. „Man gewöhnt sich an das frühe Aufstehen“, erklärt mir eine Elftklässlerin: „Am schlimmsten ist immer die erste Woche nach den Ferien.“ Wann ihr Wecker klingelt? „Um 5:30 Uhr.“ Allein die Vorstellung entreißt mir ein weiteres Gähnen.

Mit 7000 Jugendlichen auf Achse

Täglich von Montag bis Freitag bringen um die 80 Linienbusse der Verkehrsgemeinschaft Osnabrück (VOS) Nord rund 7000 Jugendliche zu ihren Schulen im Altkreis – von Rieste bis nach Fürstenau, von Hollenstede bis nach Schwagstorf – und holen sie dort am Nachmittag wieder ab. Etwa 660 Haltestellen fahren die Doppeldecker-, die Solo- und Gelenkbusse bei ihren Touren über das insgesamt 1085 Kilometer lange Liniennetz der VOS Nord an.

Keine Hektik. Kein Gedränge.

Um 6:30 Uhr schält sich die einladend erleuchtete Linie 610 aus der noch immer nachtschwarzen Kulisse heraus. Wie auf ein unausgesprochenes Kommando haben sich die jungen Leute bereits in einer Reihe aufgestellt, ihre Schülertickets hervorgekramt und schlurfen nun einer nach dem anderen in den Bus hinein. Keine Hektik. Kein Gedränge. Vorbildlich. „Klar geht das hier ganz entspannt“, klärt mich eine Fünftklässlerin auf: „Wir wissen ja, dass jeder von uns einen Sitzplatz bekommt.“ Schließlich sind zu diesem Zeitpunkt nur um die 50 Jugendliche aus Bramsche, Achmer und Vinte in dem Doppeldecker, der über gut 100 Sitzgelegenheiten verfügt. Ich suche mir einen Fensterplatz. Auf dem Vierer vor mir diskutiert eine Gruppe Oberstufenschülerinnen über die aktuelle Frisurenmode. Hinter mir scheint ein junger Mann, die Kopfhörer noch in den Ohren, vorübergehend in Tiefschlaf gefallen zu sein. Neuenkirchen. Lintern. Ueffeln. Merzen. Benkenbokern. Schwagstorf. Fürstenau. Knapp 50 Minuten dauert die Fahrt vom Altenheim bis zur Gesamtschule.

„Ganz schön voll hier, was?“

„Gefühlt sind einige Linien überfüllt“, sagt Josef Thale, stellvertretender Schulleiter der IGS: „Wir sind ständig im Gespräch mit dem Busunternehmen.“
„Gefühlt sind einige Linien überfüllt“, sagt Josef Thale, stellvertretender Schulleiter der IGS: „Wir sind ständig im Gespräch mit dem Busunternehmen.“

Ein Linienbus kalkuliert nicht nur mit Sitz-, sondern auch mit Stehplätzen: Ab ‚Ueffeln Kirche‘ bevölkern die ersten Schüler den unteren Gang, auf dem Oberdeck ist Stehen grundsätzlich untersagt. Leise Unterhaltungen bilden einen dezent vibrierenden Geräuschteppich. Ich blicke mich um: Vereinzelt sind sogar noch leere Sitze auszumachen – zum Beispiel neben mir. Diese Chance lässt sich ein aufgeweckter Fünftklässler nicht entgehen und entert mit einem zufriedenen Seufzen den übrig gebliebenen Platz. „Ganz schön voll hier, was?“, frage ich ihn nach seiner Einschätzung. Er schüttelt vehement den Kopf: „Da warten sie mal die Rückfahrt ab“, raunt er unheilschwanger. „Wenn sie da auch einen Sitzplatz wollen, müssen sie schon eine Haltestelle vor dem Schulzentrum an der Post einsteigen.“ Bevor er zu einer Runde Subway Surfer auf seinem Smartphone startet, gibt er mir noch mit auf den Weg, dass dieser Trick zwar äußerst zielführend, aber – zumindest für die nicht volljährigen Schüler der IGS – verboten sei.

Seit 4:00 Uhr auf den Beinen

Um 7:19 Uhr hält Busfahrer Klaus Kohne mit seinem Doppeldecker am Schulzentrum. Endstation? Weit gefehlt: Weil die Schülerbeförderung innerhalb des öffentlichen Linienverkehrs erfolgt, geht es für ihn jetzt direkt weiter nach Recke. Empfindet er es als Herausforderung, so viele Jugendliche zu fahren? „Nein, überhaupt nicht“, sagt er. „Die sind ja ganz ruhig.“Anstrengender sei da schon die winterliche Witterung: „Vor allem wenn ich wie heute im Dunkeln und bei Regen unterwegs bin.“ Der Wecker von Klaus Kohne hat an diesem Morgen übrigens um 4:00 Uhr geklingelt.

Mit 80 Bussen durch den Nordkreis

Organisationstalent: Seit acht Jahren arbeitet Monique Freye im Linienbüro des Busunternehmens Hülsmann in Voltlage. Dort ist sie unter anderem für die Planung der Schülerbeförderung im gesamten Nordkreis zuständig.
Organisationstalent: Seit acht Jahren arbeitet Monique Freye im Linienbüro des Busunternehmens Hülsmann in Voltlage. Dort ist sie unter anderem für die Planung der Schülerbeförderung im gesamten Nordkreis zuständig.

Szenenwechsel: Im Linienbüro des Busunternehmers Karl Hülsmann in Voltlage beugt sich Monique Freye zu ihren Monitoren hinüber. Als Disponentin organisiert sie zusammen mit ihrem Kollegen Daniel Hoffrogge die Schülerbeförderung im kompletten Nordkreis. „Im Moment läuft alles gut“, kommentiert sie nach einem Blick auf den Bildschirm das digitale Szenario. Um die 80 Busse – 20 davon sind firmeneigene Fahrzeuge, die restlichen gehören verschiedenen Subunternehmen – dirigiert die 29-Jährige kreuz und quer durch den Nordkreis. „Die Linien bestehen ja bereits, nur die aktuellen Bedarfe ändern sich zu jedem neuen Schuljahr und müssen entsprechend berücksichtigt werden“, beschreibt sie die Planungshürde. In den Sommerferien bekommt sie die Anträge der jeweiligen Schulen für die benötigten Schülersammelzeitkarten. Anhand der angegebenen Haltestellen wird ermittelt, wie groß die Busse sein müssen, die gebraucht und welche Haltestellen wann und wie oft angefahren werden. „Je nach Kapazitäten und Schülerzahlen müssen wir – regelmäßig oder nur an bestimmten Tagen oder nur zu bestimmten Zeiten und außerdem immer dann, wenn ein Fahrer ein zusätzliches Fahrzeug anfordert – Verstärkerbusse einsetzen.“

„Eine Stunde Warten ist zumutbar“

Von den etwa 1500 Schülern der IGS in Fürstenau sind derzeit um die 1020 Fahrschüler. Mit der Schulleitung sei schon vor Jahren vereinbart worden, dass die Busse für die Rückfahrten zu drei festen „Zeitlagen“ einträfen, erläutert Firmenchef Karl Hülsmann: „Gegen 12:30, gegen 14:00 und gegen 15:40 Uhr – dazwischen ist keine Schülerbeförderung vorgesehen und von unserer Auslastung her auch gar nicht möglich.“ Rein rechtlich, erklärt er, sei es für einen Schüler zumutbar, eine Stunde lang an seiner Schule auf den nächsten Bus zu warten.

„Eine Sache der Absprache“

Das klingt ja alles sehr durchdacht und sauber durchstrukturiert – aber aus eigener Erfahrung weiß ich, dass nichts eine Rechnung so gerne und so hemmungslos durchkreuzt wie die Realität. Monique Freye nickt: „Vieles ist am Ende eine Sache der Absprache“, sagt sie. Denn so schnurgerade die bunten Linien des Netzplans und so unbestechlich die Uhrzeiten in den Fahrplantabellen auch daher kommen – es gibt jede Menge Variablen in diesem überaus komplexen Spiel der Schülerbeförderung – und längst nicht alle sind berechenbar. Klappt die Kommunikation zwischen den Schulen und der Verkehrsgemeinschaft? Zwischen dem organisierenden Busunternehmen Hülsmann und den Subunternehmen? Zwischen dem Fahrer des regulären und dem des Verstärkerbusses? Zwischen den Lehrern und ihren Schülern? Den Schülern und den Eltern? Den Busfahrern und den Schülern? Vom Wetter, von der Verkehrs- und Baustellenlage, der beruflichen und schulischen Belastung gar nicht erst zu sprechen.

Schnelle Hilfe bei Fragen und Problemen

„Es taucht immer mal irgendwo ein Problem auf“, kennt Monique Freye nach acht Jahren Disponententätigkeit auch die glanzlose Seite der Medaille, „aber genau dafür sitzen wir ja hier: um dieses Problem dann möglichst schnell zu lösen.“ Sie diktiert mir ihre Telefonnummer: „05467/920020 – wer Fragen oder Probleme rund um die Schülerbeförderung hat, darf mich gerne anrufen.“ Sagt sie, lächelt – und widmet sich wieder ihren Monitoren.

Achtlosigkeit oder Missverständnis?

„Es wäre gut, wenn wir uns darauf verlassen könnten, dass regelmäßig ein Verstärkerbus nach Neuenkirchen fährt“, wünscht sich IGS-Schülerin Eileen Abing.
„Es wäre gut, wenn wir uns darauf verlassen könnten, dass regelmäßig ein Verstärkerbus nach Neuenkirchen fährt“, wünscht sich IGS-Schülerin Eileen Abing.

Inzwischen ist es 13:55 Uhr. Freitags endet nun für fast alle Fürstenauer Gesamtschüler der Unterricht. Einige Busse stehen schon mit geöffneter Tür am vorgesehenen Haltepunkt bereit. „So ist das natürlich optimal“, bemerkt der stellvertretende Schulleiter Josef Thale, der an diesem Tag die Aufsicht führt. „Wer aus der Schule herauskommt, steigt sofort ein, und es bildet sich erst gar keine Schlange.“ Während die ersten Fahrzeuge sich auf den Rückweg machen, lassen andere noch auf sich warten. An der Haltestelle der Linie 610 sehe ich die bekannten Gesichter von heute Morgen – allerdings: alles andere als entspannt: „Der Verstärker ist schon weg“, schimpft eine Schülerin. „Der hat einfach nicht angehalten, obwohl er ganz leer war.“ Josef Thale schüttelt verständnislos den Kopf. Pure Achtlosigkeit? Ein Missverständnis? „Wir sind ständig mit dem Busunternehmen im Gespräch“, seufzt der Pädagoge. „Solche Dinge müssen immer wieder angesprochen werden.“

Verärgertes Murren der Schlangesteher

Gegen 14:15 Uhr biegt planmäßig unser regulärer Bus um die Ecke – die meisten Sitzplätze sind allerdings schon besetzt. Ein verärgertes Murren geht durch die Riege der Schlangesteher. „Das sind die Schüler von der Post“, kommentiert einer der Wartenden. Thale beschwichtigt und verspricht, dass er sich darum kümmern werde. Bedächtig schiebt sich die Reihe seiner Schützlinge mit gezückten Jahreskarten an Busfahrer Golaj Qerim vorbei. Der stellvertretende Schulleiter verfolgt das Geschehen mit skeptischer Miene: „Gefühlt sind einige Linien überfüllt“, sagt er. Zweimal im Jahr zählt das Busunternehmen nach, ob die zu Grunde gelegten Schülerzahlen noch passen. In den vergangenen Jahren, hat mir Monique Freye vorhin versichert, habe immer alles gestimmt.

Es herrscht Klärungsbedarf …

„Bei der Rückfahrt sind einige Jugendliche schon etwas lauter“, sagt Busfahrer Golaj Qerim: „Aber ich finde, dass die Schüler hundertprozentig in Ordnung sind.“
„Bei der Rückfahrt sind einige Jugendliche schon etwas lauter“, sagt Busfahrer Golaj Qerim: „Aber ich finde, dass die Schüler hundertprozentig in Ordnung sind.“

Ich zwänge mich als Letzte in den Linienbus. 45 Sitz- und 44 Stehplätze, besagt das kleine Schild neben der Eingangstür, sind in diesem Fahrzeug zulässig. Ich blicke mich um und kneife die Augen zusammen. Ob das hinkommt? Auf manchen Zweierbänken haben drei Schüler Platz genommen. Und selbst, wenn tatsächlich nicht mehr als 44 Jugendliche plus Tornister – und manche zudem plus Sporttasche – sich im Gang knubbeln, ist es verdammt eng. „Das ist heute wirklich sehr voll in meinem Bus“, bestätigt auch Golaj Qerim und schüttelt etwas ratlos den Kopf. „Warum hat der Verstärker bloß nicht angehalten?“ Klärungsbedarf.

Das Wochenende in Sicht

Meine Mitfahrer sehen nach fünf anstrengenden Schultagen reichlich erschöpft aus. Noch 50 Minuten für die Neuenkirchener, dann ist Wochenende. Ich klammere mich an den nächsten Haltegriff und denke an meine eigene Zeit als Fahrschülerin zurück. Lang ist‘s her – geändert hat sich seitdem wenig. Anstelle der Sitzüberzüge aus roter Kunstfaser gibt es jetzt welche aus blau gemustertem Stoff. Hin und wieder drückt jemand – genau wie damals bei uns – auf den „Nächste-Haltestelle-Stopp“-Knopf, obwohl niemand auszusteigen braucht. Ein Missverständnis? Pure Achtlosigkeit? Die Enge an sich macht mir nicht viel aus. Außer, dass meine Füße anfangen, vom Stehen etwas weh zu tun. Bis wir Neuenkirchen ‚Altenheim‘ erreichen, dürfte sich der Bus geleert haben. Vielleicht kriege ich ab Ueffeln sogar noch einen Sitzplatz.

(Erschienen in Bersenbrücker Kreisblatt, 22.02.2016)