Ich kann nicht nähen. Zum Entsetzen meiner Großmutter. Wenn bei uns ein Knopf befestigt oder ein Riss geflickt werden muss, dann erledigt das mein Mann. Manchmal bedauere selbst ich meine hausfraulichen Defizite ein wenig: Wer sich heute an eine Nähmaschine setzt, der bedient ja längst keine fragwürdigen Rollenklischees mehr, sondern erfreut sich oft ganz unbeschwert der eigenen Experimentierfreude – und hält anschließend mit etwas Geschick und Können ein einzigartiges Stück Handarbeitskunst in seinen Händen.
Rosi Glagau hat ein wildledernes Volantkleidchen auf dem Flohmarkt erstanden. „Daraus nähe ich mir eine Handtasche“, kündigt die Hobbyhandarbeiterin entschlossen an. Anerkennendes Nicken bei ihren Kolleginnen: „Also, was dir immer Originelles einfällt!“ Rosi Glagau wiegelt ab. Eine lustige Idee zu haben, das sei das eine – die praktische Umsetzung dieses Einfalls dagegen etwas ganz anderes: Fantasie statt Schnittmuster lautet nämlich ihre Devise. Und da steckt der Teufel eben oft im Detail. Um den Besucherinnen des Nähtreffs, den der Land-Frauenverband Lotte vor einigen Monaten gegründet hat, über etwaige Unebenheiten hinweg zu helfen, gibt es zum Glück Daniela Weers. Die ausgebildete Damenschneiderin verfügt nicht nur über jede Menge Fachwissen und Erfahrung in Sachen Nadel und Faden, sondern vermittelt den Teilnehmerinnen zudem die inspirierende Herangehensweise: „Einfach mal ausprobieren.“
Kreativität steckt an
Gerade hilft sie Rosi Glagau dabei, eine Ledernadel in ihre Maschine einzusetzen – „So müsste das noch besser funktionieren.“ Das Leder gleitet unter dem metallenen Füßchen hindurch, während sich die leicht dreieckig geschliffene Nadel butterweich durch das Gewebe schneidet. „Genial!“, freut sich Rosi Glagau – und schon rücken auch die Anderen näher heran und bestaunen das Geschehen. „Ja – wenn das mit dem Ledernähen so einfach ist, dann könnte ich ja auch mal…“ Kreativität steckt an. Und jeder handwerkliche Erfolg, egal ob er sich bei einem selbst oder bei einer der Mitstreiterinnen einstellt – macht Mut auf noch mehr Ausprobieren.
Nachhaltiger Umgang mit Ressourcen
Wie schnell bereits Anfänger mit ein bisschen Übung den eigenen Kleiderschrank mit individuell gestalteten Lieblingsstücken bereichern können, verrät ein Blick in Daniela Weers Schatzkiste: Darin sammelt die Damenschneiderin – „Alles, was ich schön finde, und was sich weiter benutzen lässt“: glitzernde Applikationen längst abgetragener Originale, hübsche Knöpfe, Borten und Bänder, Schließen, Ringe, Schnallen – oder einen kompletten Jeansshorts. „Das war lange Zeit ein Lieblingsstück meiner Tochter“, erklärt Daniela Weers, „daraus nähe ich ihr demnächst eine coole Tasche.“ Verschlissenes, zu klein Gewordenes, aus der Mode Geratenes nicht gleich aussortieren, sondern auf- oder zumindest wieder zu verwerten – das mag Weers am kreativen Nähen besonders. „Das bedeutet für mich zugleich auch ein Gegensteuern gegen die Konsum- und Wegwerfgesellschaft.“ Nachhaltiger Umgang mit Ressourcen. Aus Alt mach Neu. Selbst genähter Einkaufsbeutel aus Baumwolle statt Einweg-Plastiktüte: Gründe zu Nähen, gibt es viele.
Die pure Lust am Tun
„Das Handarbeiten ist meine ganz persönliche Rettung vor dem beruflichen Burnout“, sagt Heidi Spellbrink aus Halen und nimmt Maß für eine bunt karierte Tischdecke. Jeder scheint sofort Bescheid zu wissen, was gemeint ist: Denn egal, ob die Stricknadeln klappern, eine kontemplative Häkelarbeit Masche um Masche Gestalt annimmt oder die Nähmaschine rattert: Sind die Abläufe erst halbwegs zur Routine geworden, stellt sich bei den meisten Handarbeitern aus Leidenschaft nicht nur die pure Lust am Tun ein, sondern auch eine wohltuende Entspannung.
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 24.02.2015; Westfälische Nachrichten, 24.02.2015)