Flüchtlingswelle? Flüchtlingskrise? Flüchtlingsrekord? Anstatt sich von Schlagwörtern, die eher mulmige Gefühle als sachliche Erkenntnisse vermitteln, verunsichern zu lassen, hat Gerhard Böhmer sein Bedürfnis nach zuverlässigen Informationen über die Situation der Asylbewerber in die eigenen Hände genommen und eine nahe liegende Lösung gewählt: „Ich bin einfach mal zur Unterkunft Postmeyer gegangen, um mir anzusehen, wie die Flüchtlinge dort untergebracht sind und wie es ihnen geht“, berichtet der 65-jährige Westerkappelner, der mit seiner Frau im Ortfeld zuhause ist. Mit Händen und Füßen und seinem angestaubten Schulenglisch habe er sich dann mit einigen der Bewohner unterhalten. „Viele von ihnen sprechen zwar kein Deutsch und kaum oder gar kein Englisch“, sagt Böhmer, „aber irgendwie klappt das mit der Verständigung meistens trotzdem.“ Der eine verstehe dieses, der andere das, ein Dritter fungiere als Dolmetscher.
Die „Krise“ hat viele Gesichter
Während seines Besuchs im Haus Postmeyer bekam die gern zitierte „Flüchtlingskrise“ für den Ruheständler mit einem Mal ein Gesicht. Oder besser gesagt: ziemlich viele Gesichter. Und die meisten davon lächelten ihn fragend an. Der Anfang war gemacht. „Ich habe dort sehr herzliche und offene Menschen kennengelernt“, sagt Böhmer. Die – neben all ihren anderen Sorgen – enorm darunter litten, dass sie die längste Zeit des Tages zum Nichtstun verdammt seien. Und vielleicht, weil Gerhard Böhmer als ehemaliger Elektromeister daran gewöhnt ist, die Dinge pragmatisch anzugehen, lässt er sich seitdem immer wieder etwas einfallen, um den Flüchtlingen ihr Leben zu erleichtern. „Hilfe zur Selbsthilfe“, lautet dabei sein Credo. Als ich von Böhmers Plan erfahre, mit einigen der Männer per Linienbus nach Osnabrück zu fahren, um ihnen das Busfahren zu erklären und die Innenstadt zu zeigen, schließe ich mich an.
Soll ich reingehen?
Da stehe ich also vor dem mächtigen roten Backsteingemäuer an der Osnabrücker Straße. Aus den gekippten Fenstern strömt der würzige Duft von Mittagessen. Gerhard Böhmer ist noch nicht da – ich kenne mich nicht aus und schlurfe unsicher über den Hof. Soll ich reingehen? Gibt es einen Klingelknopf? Und welche der Türen ist überhaupt der offizielle Eingang? Während mir noch durch den Kopf schießt, wie weit abgelegen vom Geschehen sich die Unterkunft Postmeyer doch befindet, und dass man hier ohne Pkw ganz schön aufgeschmissen ist, tritt ein schwarzhaariger Mann aus dem Hausflur. Zögernd blickt er zu mir herüber – er scheint nicht so recht zu wissen, wie er die Fremde dort auf dem Hof seines vorübergehenden Zuhauses einschätzen soll. Auch ich warte erst einmal ab. Aber – wie hat es Gerhard Böhmer doch so befreiend unkompliziert formuliert: Einfach mal aufeinander zugehen. Ich gebe mir also einen Ruck – und kaum bin ich losgestiefelt, da streckt mir Mehssen Hadikheder auch schon die Hand entgegen und lächelt mich freundlich an. Wir stellen uns vor. Mehssen beginnt, sehr interessiert auf mich einzureden. Allein – ich verstehe kein Wort. Allerdings entgeht mir nicht, wie sehr mein Gesprächspartner in spe nach einem gemeinsamen Vokabular ringt: „Gerhard Böhmer? Osnabrück?“, fragt er schließlich. Wir nicken einander begeistert zu. „Ja, genau – fahren Sie auch mit dem Bus?“ Die Anspannung löst sich. Beide mobilisieren wir sämtliche unserer Fremdsprachenkenntnisse und schippern lachend und gestikulierend – und immer wieder hoch erfreut über jedes noch so kleine Gelingen – durch die Unterhaltung.
„Das soll kein Almosen sein“
Kurz darauf stößt auch Ahmed Talb dazu. Sobald wir uns bekannt gemacht haben, bietet mir der gebürtige Iraker erstmal mit einladender Geste ein Schokoladenbonbon an. Die Gruppe der Osnabrück-Reisenden wächst. Alle sind sehr gespannt – soweit ich den Gesprächen folgen kann, war bisher noch niemand von ihnen in der Hasestadt. Als Gerhard Böhmer eintrifft, sind wir schließlich zu neunt. „Das hier soll kein Almosen sein“, erklärt mir der Rentner und sammelt das Geld von allen ein – ein Gruppenticket (Hin- und Rückfahrt) für fünf Personen kostet vier Euro pro Nase. Die Stimmung auf der Linie R 30 ist locker: Ein paar Fahrgäste erkundigen sich interessiert nach unserem Ziel und geben Tipps, welche Stände und Geschäfte wir unbedingt besuchen sollten. Als eine ältere Dame plötzlich einen Hustenanfall bekommt, eilt Ahmed Talb besorgt zu ihr – und legt ihr mit zuversichtlichem Nicken zwei Schokobonbons in die Hand.
Hinterm Schafberg gehts weiter
„Eine sehr große Stadt“, raunt Mehssen Hadikheder anerkennend, als wir schließlich die Fußgängerzone erreichen. „Aber sehr exklusiv“, merkt er beim Betrachten der Auslagen an. Wir schlendern durch die Kaufhäuser. Ahmed Talb ist ein wenig besorgt, ob er mit seinem Vollbart wohl unangenehm auffalle. Wir beruhigen ihn – zwischen all den dekorierten Weihnachtsmännern scheine er doch bestens aufgehoben, scherzen seine Mitbewohner. Doch so ganz sind Talbs Zweifel wohl nicht ausgeräumt. Auf dem Weihnachtsmarkt steuern wir die Kebap-Bude an. Mehssen Hadikheder lehnt staunend am Tresen und lässt seinen Blick über die bunt leuchtende Szenerie am Fuße des Doms schweifen: „So viele Menschen, so fröhliche Musik – das ist sehr schön hier“, freut er sich. Und auch Gerhard Böhmer wirkt zufrieden: Er hat den Asylbewerbern aus Westerkappeln gezeigt, dass es mit ihrer potenziellen neuen Heimat auch hinterm Schafberg noch weiter geht.
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 9.12.2015; Westfälische Nachrichten, 9.12.2015)