Oh, diese großen, treuen Augen. Dieser seelenvolle, unschuldige Blick. Und dann auch noch dieses Fell, so unfassbar weich. Einen Hund als Hausgenossen zu haben ist etwas Wunderbares. Wären da nicht die Tücken der Erziehung.
Alle Viere wohlig von sich gestreckt, ruht Tinka, unsere neun Monate alte Junghündin, in einem – sich bis zu sämtlichen Fußleisten unseres Flures erstreckenden – Meer aus Zeitungsfetzen, grobschlächtig zerlegten Pappverpackungen und speichelfeuchtem Papier. Meinen entsetzten Aufschrei „Was ist denn hier passiert?“, der mir beim Betreten der Wohnung entfährt, quittiert sie mit einem kurzen, betont desinteressierten Heben ihres Kopfes und provozierend lässigem Schwanzwedeln. Höre ich da etwa ein Kichern? Dass der Altpapierkorb tabu ist, weiß dieser aufsässige Strolch doch! „Böse Tinka!“, murmel ich erbost vor mich hin, als ich das Unheil beseitige – und ahne natürlich, dass der Zug für Belehrungen und Erziehungsarbeit hier längst abgefahren ist – und Vorwürfe bei Hunden genauso wenig nützen wie bei Menschen. Konstruktiver wäre es wohl, wenn ich das nächste Mal besser aufpassen und vorausschauender handeln würde, gestehe ich mir ein.
Soll heißen: Entweder den Altpapierkorb unerreichbar in ein anderes Zimmer stellen, bevor ich die Wohnung verlasse. Oder seinen Deckel mit einer ordentlichen Prise Pfeffer bestreuen, dessen scharfen Geschmack Tinka dann hoffentlich ein für allemal – die klassische Konditionierung lässt grüßen – mit dem Objekt der Begierde verknüpft und künftig die Zähne von ihm und seinem Inhalt lässt. Oder ich lege mich auf die Lauer, erwische sie auf frischer Tat – und verpasse ihr eine volle Breitseite aus der Wasserpistole, verbunden mit einem pfefferscharfen „Nein! Papierkorb pfui!“. Die Crux dabei: Sobald ein menschliches Rudelmitglied anwesend ist, verwandelt sich Tinka in eine Musterschülerin. Sie springt nicht aufs Sofa, stibitzt keine Brötchen vom Esstisch und knabbert weder Teppiche noch Notizbücher an. Solcherlei Extravaganzen hebt sie sich für einsame Stunden auf – frei nach dem Motto: Tinka allein zu Haus.
Überwachung aus dem Homeoffice
Das ist aber zum Glück eher selten der Fall. Denn seit dem Frühlings-Lockdown haben mein Mann und ich unsere beruflichen Aktivitäten ins Homeoffice verlagert, was nicht zuletzt auch der Anlass für die Anschaffung des fidelen Vierbeiners war. Denn fast rund um die Uhr zuhause zu sein, so dachten wir damals voller naiver Unbekümmertheit, das sei eine dieser seltenen Fügungen, die ideale Bedingungen und leichtes Spiel bei der Erziehung des besten Freundes des Menschen verheißen würden. Ein Irrtum, wie Tinka uns schnell eines Besseren belehrte.
Inzwischen ist aus dem rabaukigen Welpen ein noch viel rabaukigerer Junghund geworden. Der pädagogische Einsatz von Leckerlis und Wasserpistole dauert – ohne absehbares Ende – beharrlich an. Schließlich muss sich die pubertierende Krawall-Elfe lieber früher als später den Regeln für vierbeinige Rudelmitglieder in unserem Haushalt unterordnen. Und das ohne Wenn und Aber, ohne Knurren und Kapriolen. Denn während man sich vom menschlichen Nachwuchs kritisches Denken, eigenverantwortliches Handeln und ein ausgeprägtes soziales Gewissen erhofft, erwarten wir von unserem Vierbeiner etwas ganz anderes: zuverlässigen Gehorsam. Ob sich die Flausen, die in Tinkas Kopf herumwirbeln – und die sie unverdrossen in Realitäten umsetzt, mit Konsequenz und klaren Worten bändigen lassen?
Fortschritte trotz Halbstarken-Allüren
Wir bleiben optimistisch. Denn eines muss man der Schlawinerin zugestehen: Trotz derzeit wohl überwiegend hormonell bedingter Halbstarken-Allüren, benimmt sie sich in der Öffentlichkeit nahezu tadellos: Dank regelmäßigem Besuch der Hundeschule lässt sich unsere Heranwachsende ohne Herumgezerre an der Leine bei Fuß führen. Sie behält Platz, auch wenn sich ihr Frauchen von ihr entfernt, und sie kommt zurück, wenn man sie ruft. Jedenfalls meistens. Außerdem hat unser aufmerksamer Vierbeiner gelernt andere Hunde, sich nähernde Spaziergänger, Jogger und Fahrradfahrer zu ignorieren.
Besonders aber glänzt sie, wenn darum geht, auch in schwierigen Situationen die Kontenance zu bewahren: Durch konsequentes Training ist sie von Woche zu Woche besser in der Lage, ihre Impulse zu kontrollieren. Ein Beispiel: Tinka erhält den Befehl „Platz! Bleib!“, woraufhin sie sich flach auf den Boden legt. Dann beginnt das Frauchen, einen Ball um den Hund herum zu kicken. Am liebsten würde Tinka nun natürlich aufspringen und mitspielen – wäre da doch bloß nicht diese Anweisung von der Chefin und die verlockende Gewissheit, sich durch braves Liegenbleiben weitere Leckerlis zu verdienen. Kann sie ihre Triebe nicht mehr beherrschen und rennt dem Ball doch hinterher, wird sie ruhig zu ihrem Platz zurückgeführt – und ein neuer Durchgang beginnt.
Die Sache mit der Selbstdisziplin
Wer unserem kleinen Wildfang dabei zusieht, wie diszipliniert sie sich bemüht, ihre archaischen Gelüste niederzuringen, entdeckt durchaus die eine oder andere Parallele zwischen tierischem und menschlichem Verhalten. Sehen wir Zweibeiner uns nicht hier und da in ähnliche innere Kämpfe verwickelt? Wie widersteht man beispielsweise der Versuchung, den mit Pralinen gefüllten Adventskalender nicht doch schon im November zu öffnen? Oder jedes einzelne Luftpolster der Knallfolie, die für das Verpacken der Weihnachtspakete gedacht ist, genüsslich zu zerdrücken?
Also: Hut ab, Tinka, denke ich, während der Ball aufreizend vor einer feuchten, schwarzen, nervös zuckenden Hundenase herum kullert. In solchen Momenten keimt dann sogar für das Plündern des Papierkorbs eine gewisse Nachvollziehbarkeit in mir auf. Schließlich weiß ja auch niemand außer mir selbst, welchen heimlichen Ausschweifungen ich womöglich fröne – allein zu Haus, unbeobachtet und unbeherrscht.
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 24. November 2020)