Kaum traue ich meinen Augen, als im ersten Licht des frühen Morgens der „Terex“ seinen gigantischen Körper zwischen den herbstlich gefärbten Siedlungshecken erhebt – sich bis auf elf Meter Höhe streckt, gierig die stählernen Kiefer aufsperrt und sie mit provozierender Perfektion zentimetergenau in die brüchige Architektur seiner Beute schlägt.
Holzbalken bersten. Dachziegel scheppern wie ein Regen aus zersplitternden Knochen klirrend zu Boden. Obwohl ich weiß, dass dieser Terex kein T-rex, sondern ein hydraulischer Raupenbagger ist, nähere ich mich dem angriffslustigen Schwergewicht mit der, sagen wir: einem Vielfraß gebührenden Vorsicht. Der Abriss eines maroden Einfamilienhauses im Westerkappelner Ortskern durch den Dienstleister Ludger Kemmermann aus Hörstel bietet mir die verlockende Gelegenheit, zu der zu werden, „Die mit dem Terex speist“.
Leidenschaft für das Brachiale
Konstantinos Koutsoukos springt lässig aus der Fahrerkabine – und landet mit überraschend sicherem Stand auf dem holperigen Untergrund aus Zementbrocken, Mauersteinen und Trümmern alter Badezimmerfliesen, die das Revier der tyrannischen Stahlechse markieren. Der Terex, registriere ich nicht ohne Unbehagen, gestaltet seinen Lebensraum mit einer unverkennbaren Leidenschaft für das Brachiale. Reflexartig überprüfe ich den Sitz meines Schutzhelms. „Kommen Sie“, ruft mir Koutsoukos mit höflichem Wohlwollen zu, „kommen Sie hier rauf!“ Unsicheren Schrittes stolpere ich über den Hügel aus Bauschutt dem gebürtigen Griechen und dem – ihm offenbar treu ergebenen und friedlich in eine vorübergehende Starre gefallenen – Reptil entgegen. Jetzt nur noch einen Haufen ausgespiener Klinker überwinden – und endlich stehe ich, Auge in Frontstrahler, der stahlgewordenen Urgewalt gegenüber: 6 Zylinder, 6700 Kubikzentimeter Hubraum, 158 PS, 24 Tonnen Eigengewicht. Zum Vergleich: Das urzeitliche Namenspendant der Baumaschine soll etwa zwölf Meter lang und sechs Meter hoch gewesen sein und um die sieben Tonnen gewogen haben.
Stoisches Vertrauen in den Lauf der Dinge
„Wollen Sie gleich einsteigen?“, fragt mich Koutsoukos und deutet mit einladender Geste auf die derben Raupenketten, die sich – für einen 1,62 Meter großen Drachenreiter wie mich – mehr schlecht denn recht als Steigbügel eignen. Doch schließlich bin ich oben: Die gesicherte Kabine bietet einen nahezu vollständigen Panoramablick. Der Sitz ist bequem. Die weiteren Requisiten: Drei Pedale im Fußraum. Auf der linken und rechten Seite in Höhe der Armlehnen jeweils ein Joystick, darauf verschiedene Knöpfchen. Und mit diesem filigranen Hebelwerk lässt sich der martialische Kraftprotz also bändigen? „Stellen Sie ihn ruhig mal an und probieren Sie es aus.“ Wie bitte? Koutsoukos nickt entspannt, und sein stoisches Vertrauen in den Lauf der Dinge scheint keine Bedenken zuzulassen – nein, ich habe mich nicht verhört: Ich darf ihn wirklich wecken, den Tyrannosaurus!
Das Schnurren des Riesen
Schlüssel umgedreht – und zack: Der Koloss schnurrt wie ein Kätzchen. Unerwartet sanft klingt der Riese. Mein Mentor lächelt mich an und blinzelt vielsagend zu einem der Griffe hinüber. Ich traue mich, drücke den Knauf leicht nach vorn – und der geschwungene Ausleger des „Terex TC 225 LC“ senkt sich. Das linke Pedal ist für die linke Kette zuständig, mit dem mittleren betätige ich die rechte Kette, das rechte Pedal lässt den Greifer rotieren. Bedächtig knirscht der Bagger auf die Bauruine zu. Kabine schwenken, Knickarm ausfahren. „Braver Terex, guter Junge“, murmel ich. Doch bevor meine Begeisterung die folgsame Baumaschine geradewegs in die Wohnstube des Hausgerippes treibt, hat der wachsame Grieche mich längst – herzlich aber bestimmt – gestoppt und das Kommando über das majestätische Monstrum wieder übernommen.
Ende eim Gelände
Ende im Gelände! Werde ich also doch nicht zu der, „Die mit dem Terex speist“, sondern bloß zu der, „Die dem Terex beim Speisen zusieht und dabei einiges über dessen Tischmanieren erfährt“: Denn was das stählerne Ungetüm nun mit einer für seine Masse verblüffenden Grazie zu zelebrieren beginnt, ist keineswegs das barbarische Gelage, das ich erwartet hatte. „Wenn es darum ginge, so ein Haus nur abzureißen“, wägt Koutsoukos ab, „wäre man nach einer guten Stunde fertig.“ Stattdessen aber rupft und zupft der Terex mit seinen spitzen Metalllippen gezielt die unterschiedlichen Materialien aus der Ruine, zerrt Säcke voller Glaswolle aus der klaffenden Wunde des Gebälks heraus, schüttelt mit verbissener Penetranz Stromkabel von hölzernen Dachleisten und legt, was seine Sortierfreude angeht, eine Aschenputteltäubchen gleiche Akribie an den Tag.
Die guten ins Töpfchen – die schlechten ins Kröpfchen?
Eine volle Woche, vermutet Konstantinos Koutsoukos, werde es wohl insgesamt dauern, bis das Gebäude nicht nur dem Erdboden gleich gemacht, sondern auch sauber in seine Bestandteile zerlegt ist und diese dann vorschriftsmäßig entsorgt sind: Glas, Dämmmaterial, Altmetall, Holz, Kunststoff, Elektroschrott, Restmüll – und schließlich: Bauschutt. Der Terex mag von dem ganzen Plunder allerdings nichts probieren. Er ist, genau wie sein geschuppter Vetter, als Nahrungsspezialist von eher pingeligem Geschmack und beschränkt sich in seinen kulinarischen Gelüsten auf rund 12 Liter Diesel pro Betriebsstunde.
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 11. 11. 2015; Westfälische Nachrichten, 11. 11. 2015)