Mit ausgelassenen Sprüngen bockt „RR Beyonce“ im Pulk ihrer Herdengenossinnen durch das aufwirbelnde Stroh des Jungviehstalls und macht genau das, womit sich Rinder in ihrem Alter am liebsten beschäftigen: herumkalbern. Dass die viermonatige Schönheit aus dem Zuchtstall der Familie Reinermann aus Rüsfort („RR“) in Gehrde der Star bei der anstehenden Eliteauktion der Osnabrücker Herdbuchgesellschaft (OHG) ist, dass ihretwegen Kaufinteressenten aus den Niederlanden, aus Luxemburg, Dänemark, Spanien, Italien und Großbritannien, aus Griechenland, Polen, Ungarn und Tschechien, aus Österreich und Belgien nach Osnabrück reisen werden, beeindruckt das samtschwarze Kälbchen mit dem sanften Blick nicht im geringsten.
Warum zwei Herzen in Uwe Reinermanns Brust schlagen
Landwirt Uwe Reinermann wirkt da schon etwas angespannter, wie er, auf die Einfriedung des Pferchs gelehnt, seinem derzeitigen Spitzennachwuchs beim Herumtoben zusieht. Hin und wieder huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Mindestens genauso oft entfährt ihm allerdings ein Seufzen. In der Brust des 41-jährigen Landwirts wohnen am Ende dann doch zwei Herzen – und nicht immer schlagen sie im selben Rhythmus: Reinermann ist nicht bloß ein versierter Milchvieh-Züchter, er ist auch unverkennbar ein Tierfreund. „Wenn ich ein Kalb für die Auktion vorbereite“, berichtet er, „verbringe ich viel Zeit mit ihm.“ Das Tier muss lernen, brav am Halfter zu gehen, es wird geschoren, mehrfach gewaschen und frisiert. Der Züchter muss seinen Schützling der Sichtungskommission vorstellen und ihn bei Fototerminen in optimaler Verfassung präsentieren. Das heißt jedes Mal wieder: Waschen, Schneiden, Legen.
Hier ist das Knowhow der ganzen Familie gefragt
„Das ist schon ein intensiver Umgang über mehrere Wochen“, sagt Uwe Reinermann, „da gewöhnt man sich aneinander.“ Wieder ein kurzes Lächeln. Wenn er dann aber von seinen Erwartungen spricht, die er in die Versteigerung seiner ungestümen Rinderdame setzt, wird klar, wie viel Arbeit, Mühe und züchterisches Knowhow er, sein Bruder Volker und seine Eltern Walter und Anneliese Reinermann in die kleine Schwarzbunte investiert haben. Aus unternehmerischer Sicht soll ihr Verkauf daher zum lukrativen Abschluss eines lange währenden und wohl überlegten Zuchtplans werden. Denn natürlich ist „RR Beyonce“ nicht irgendein hübsches Kälbchen, sondern der Spross einer Dynastie aus erfolgreichen Milchkühen und hochkarätigen Zuchtbullen: Ihre Mutter „RR Barbie“, in Züchterkreisen ebenfalls keine Unbekannte, hat vor wenigen Tagen ihr erstes Kälbchen geboren. Geht nicht? Es kommt noch besser: „RR Barbie“ stammt aus den USA und ist in einem Paket per Luftfracht nach Deutschland gekommen. Als tiefgefrorener Embryo, eingelegt in flüssigen Stickstoff. Klingt nach Science Fiction? Zugeben – aber: „In der Landwirtschaft leben wir längst im genomischen Zeitalter“, sagt Uwe Reinermann und nickt entschlossen.
Was die Speichelprobe über die Milchleistung verrät
Was man sich darunter vorzustellen hat, erläutert Dr. Andreas Kandzi, Zuchtexperte bei der OHG: „Seit 2009 bietet unser Verband seinen Mitgliedern ein genomisches Testverfahren an. Dabei wird den frisch geborenen Tieren entweder eine Speichel- oder eine Blutprobe entnommen“, berichtet er und fährt fort: „Anhand des in dieser Probe enthaltenen Erbmaterials können wir die genetisch festgelegten Eigenschaften des jeweiligen Tieres bestimmen.“ Soll heißen: Bereits wenige Tage nach Beyonces Geburt wusste Uwe Reinermann, dass das kleine Kälbchen aus Rüsfort alle Voraussetzungen in sich trägt, später einmal eine herausragende Milchkuh mit exzellenten Qualitäten zu werden. Aus den untersuchten Erbanlagen – unter anderem für die Milchleistung und deren Güte, für die Eutergesundheit, den Körperbau, die Lebenserwartung oder die Melkbarkeit – ermittelt die OHG den sogenannten „gRZG“, den „genomischen Gesamtwert“ eines Tieres. Je höher dieser Wert, desto vielversprechender und wertvoller das Kalb. Für eine durchschnittlich gute Leistungskuh ist der gRZG auf 100 festgesetzt. Bei Beyonce liegt er bei 154.
Bizarre Zeitschleifen in der Nachwuchsabfolge
Die moderne Fortpflanzungstechnologie liefert auch die Lösung für den Umstand, dass Beyonces vor wenigen Tagen zur Welt gekommenes Geschwister dennoch als Erstgeborenes der gemeinsamen Mutter „RR Barbie“ gilt. Ein Rätsel allerdings nur für Außenstehende, denn die bizarre Zeitschleife in der Nachwuchsabfolge ist längst Gang und Gäbe in den Zuchtbetrieben: Weil auch Mutter Barbie bereits in Kälbertagen als „Top-Genetik-Rind“ mit beachtlichem gRZG galt, wurde sie in das verbandseigene „Spülprogramm“ der OHG aufgenommen. Das bedeutet: Nach einer Hormonbehandlung, die die Produktion ihrer Eizellen anregte, wurde die einjährige Barbie mit dem Sperma eines aufgrund seines gRZG für würdig befundenen Zuchtbullen künstlich besamt. „Den passenden Partner für unsere Rinder zu finden, dessen Eigenschaften die unserer Zuchtlinien optimal ergänzen“, erklärt Uwe Reinermann, „darauf hat sich mein Bruder Volker spezialisiert.“ Die Partnersuche läuft dank Internet weltweit ab, die gewünschten Spermaportionen reisen tiefgefroren um den Globus. Oft wird Reinermann aber beim eigenen Verband fündig.
„Leihmütter“ mit wertvoller Fracht
Nach der Besamung haben sich in dem jungen Rind mit etwas Glück zwischen sechs und sieben Embryonen entwickelt. Lauter angehende Hochleistungs-Milchkühe oder exzellente Zuchtbullen. Einer dieser Embryonen wird sich in Barbies Fall zu einem weiblichen Tier mit sanften schwarzen Augen und einem gRZG von 154 mausern. Normalerweise bekommt ein Rind im Alter von frühestens zwei Jahren sein erstes Kalb, selten sind es Zwillinge. Sind die Embryonen nach einer Woche „reif“, werden sie in der Zuchtstation der OHG in Melle aus dem Rind „heraus gespült“ und auf qualitativ nicht so hochwertige „Trägertiere“ verteilt. „Embryonentransfer“ heißt das in der Fachsprache. Gemeinsam mit ihrer wertvollen Fracht betreut der Landwirt die „Leihmütter“ in seinem heimatlichen Stall. Dort entwickeln sich die Embryonen im Laufe der nächsten neun Monate weiter und erblicken dann als vielversprechender Nachwuchs bestens umsorgt das Licht des Zuchtstalls. Wenige Tage später müssen sie sich ihrem eigenen genomischen Test unterziehen, der über ihr weiteres Schicksal entscheidet.
Nur wer Kälber gebiert, gibt anschließend auch Milch
Aber zurück zu „RR Barbie“: Nachdem sie ihre erste – und in der Regel einzige – Embryonenspülung hinter sich gebracht hat, bleibt sie – befreit von jeglicher Last des Kälberaustragens, aber dennoch gleich vielfach guter Hoffnung – noch ein paar Monate bei ihren Kolleginnen im Jungviehstall. In den Sommermonaten ist, ganz wie in alten Zeiten, ein wenig Weidegang angesagt. Aber schon steht Fortpflanzungszyklus Nummer zwei auf dem Zuchtprogramm: Zwar auch dieses Mal nicht so, wie es die Natur einstmals bei den Paarhufern geplant hatte – aber immerhin erlebt Mutter Barbie nach der obligatorischen künstlichen Besamung nun ihre erste echte Schwangerschaft. Denn nur wer Kälber gebiert, gibt anschließend auch Milch. Und darum dreht sich ja das Ganze.
Beruf: Milchkuh, Leistung: 9.800 Liter Milch pro Jahr
Die durchschnittliche Menge Milch, die eine solide OHG-Leistungskuh pro Jahr produziert, beträgt derzeit rund 9.800 Kilo – das entspricht rund 9.800 Litern. Bei den Reinermanns liegt, was die Gesamtmilchleistung angeht „RR Fantasia“ ganz vorne: Die Schwarzbunte hat im Laufe ihrer mehr als zehnjährigen „Berufstätigkeit“ als Michproduzentin derzeit bereits sage und schreibe 120.000 Liter Milch geliefert. Die durchschnittliche Lebenserwartung einer OHG-Leistungskuh, erklärt Steffen Hambruch von der OHG, betrage aktuell zwischen fünf und sechs Jahren. Als Walter Reinermann so alt war wie sein Sohn Uwe heute, das war Mitte der 80er Jahre, hat eine OHG-Kuh im Durchschnitt 7000 Kilo Milch pro Jahr erzeugt und wurde zwischen sechs und sieben Jahre alt.
Eine kleine Schwarzbunte betritt den Ring
Es ist soweit: Familie Reinermann hastet geschäftig durch die Osnabrücker Halle Gartlage. Auf dem roten Teppich, der standesgemäß vor dem Eingang ausgerollt ist, um die internationale Käuferschaft zur diesjährigen Eliteauktion zu empfangen, liegen verstreute Strohhalme und kleine Wölkchen aus Sägespänen. Macht nichts, denn die meisten, die hier entlang schreiten, tragen ohnehin derbes Schuhwerk. Wer in Milchvieh macht, der steht gern mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Uwe Reinermann schleppt einen Eimer voller Maissilage zu seinen Mietboxen. Mit fünf Tieren ist er im Angebot der OHG-Eliteauktion vertreten – so vielen, wie kein anderer Züchter. Beyonce wird als drittletztes von 27 Tieren in den Ring geführt und von OHG-Verkaufsleiter Steffen Hambruch als „makelloser Leckerbissen“ angekündigt. Die Hände heben sich: 8.000 Euro, 8.500 Euro, 9.000 Euro …
Etwas ungläubig. Etwas stolz. Etwas wehmütig
Die Reinermanns stehen am Rande des Geschehens und sehen ein wenig blass um die Nasen aus. Auch wenn sie die Auktionen, an denen sie mittlerweile mit ihren Tieren teilgenommen haben, längst nicht mehr zählen: „So eine Versteigerung ist jedes Mal wieder eine aufregende Sache“, versichert Uwe Reinermann. Und diesmal lächelt er nicht. Beyonce stapft sehr brav und sehr gelassen durch die Sägespäne. Das Scheinwerferlicht taucht ihr akkurat geschorenes Fell in einen matt schimmernden Glanz. Bei 21.000 Euro senkt sich das kleine Holzhämmerchen des Auktionators. Klack! Da geht sie hin. Beyonce wird ihre nächsten Jahre in einer Zuchtstation in Schleswig-Holstein verbringen. Und wie geht es Uwe Reinermann? Der blickt inzwischen schon ein bisschen entspannter und findet auch sein Lächeln wieder: Etwas ungläubig. Etwas stolz. Etwas wehmütig.
(Erschienen in: Bersenbrücker Kreisblatt, 1. Februar 2014)