Gut eingespieltes Team: Einmal in der Woche besuchen Melissa (links), Naomi und Tim mit ihrer Mutter Simone den Reitunterricht von Albrecht Lübke. Foto: Ulrike Havermeyer
Ein blonder Wuschelkopf. Ein offenes Lächeln. Wache blaue Augen. Tim ist sichtbar. Überregionale Zeitungen und Magazine berichten über ihn. Auch ein Fernsehteam hat den Alltag der Familie Guido aus Quakenbrück schon dokumentiert. Dass der Blick der Öffentlichkeit ihr Leben immer wieder streifen würde, war nicht beabsichtigt – aber wohl unvermeidbar. Denn als Simone und Bernhard Guido 1998 ihr erstes Pflegekind aufnahmen, kam in Gestalt des mehrfach behinderten „Oldenburger Babys“ nicht nur ein kleiner Junge mit einem schweren Schicksal in ihr Haus, sondern auch ein hohes Maß an allgemeiner Anteilnahme und damit verbunden ein landesweites Medieninteresse.
Tims Lebensfreude prägt den Alltag
Tim, das Kind mit dem Down-Syndrom und einer Reihe schwerer Organschäden, war für Viele nur „der Junge, der seine eigene Abtreibung überlebt hat“. Dessen dramatische und eigentlich gar nicht gewollte Geburt für eine Diskussion über Spätabtreibung und die Einstellung der Gesellschaft zu einem Leben mit Behinderungen auslöste. Für die Guidos dagegen ist Tim ihr nicht immer ganz leicht zu handhabender Pflegesohn, in den sie sich vor 18 Jahren „auf den ersten Blick verliebt haben“, wie sie betonen. Und dessen unbestreitbare Lebensfreude die Sicht der Familie auf den gemeinsamen Alltag trotz mancher Schwierigkeiten doch mit prägt.
Drei sattelfeste Down-Kinder
Ein Spätsommertag in Quakenbrück: Während Marco (23 Jahre), der älteste der beiden leiblichen Söhne von Simone und Bernhard Guido, das gute Wetter und die eigenen Semesterferien nutzt, um seinen Eltern einen Besuch abzustatten – und dabei auch gleich noch den Gartenzaun zu streichen, bereiten sich seine drei Pflegegeschwister Tim (18), Melissa (15) und Naomi (11) auf ihre wöchentliche Reitstunde vor. Als Mutter Simone den Familien-Van auf den Hof von Albrecht Lübke lenkt, hat der Reitlehrer seine beiden Therapiepferde Oskar und Luna schon gesattelt. Seit mehr als 16 Jahren arbeitet der Mann aus Wohld mit der Familie Guido zusammen: 1999 hat er den damals zweijährigen Tim kennen gelernt. 2004 kam Melissa dazu und im vergangenen September Naomi. Zwischen Lübke und den Guidos ist im Laufe der Jahre mehr als bloß eine Bekanntschaft gewachsen.
„Natürlich ist das manchmal anstrengend“
Mit einigem Radau biegt Tim um die Ecke. „Hallo, mein Freund – nicht ganz so laut bitte!“, bremst ihn Albrecht Lübke. Über eine Rampe erklimmt der mehrfach schwerstbehinderte Tim den hellbraunen Oskar. Souverän. Unaufgeregt. Und einigermaßen selbstständig. Als der Wallach Runde um Runde an der Longe zunächst im Schritt, doch bald auch im Trab und sogar im Galopp zurücklegt, wirkt Tim zusehends gelassener: Ganz ruhig sitzt er auf Oskars Rücken, die Beine fest um den Pferdeleib gepresst, das Kreuz durchgedrückt – wie aus dem Lehrbuch. Mutter Simone führt derweil Scheckstute Luna durch die Reithalle. Obendrauf: eine strahlende Melissa. Auch die 15-Jährige fühlt sich auf dem Pferderücken pudelwohl – und das Down-Syndrom beeinträchtigt weder sie noch ihre Pflegeschwester Naomi in ihrem reiterlichen Können. Simone Guido betrachtet die Drei mit wohlwollendem Lächeln. „Natürlich ist das manchmal anstrengend“, sagt sie. „Aber das ist es mit nicht behinderten Kindern ja auch.“ Albrecht Lübke lässt Oskar anhalten. Pferdewechsel. Nun darf Melissa an die Longe und Naomi übernimmt Oskar.
Zeit, Ressourcen und ein gutes Leben teilen
Naomi möchte aber lieber auf Luna reiten. Tim hat vergessen, sich von Oskar zu verabschieden und wird zusehens unruhig. Melissa kniet freihändig auf dem Pferderücken und fordert ihre Mutter eindringlich auf, doch endlich einmal zu ihr herüber zu schauen. Das ganz normale Gewusel in einer ziemlich normalen Familie. Mütterlich gebändigtes Chaos. Die Symbiose aus Gelassenheit, Erfahrung und dem Wissen, bereits diverse Dramen überstandenen zu haben. Simone Guido dirigiert Tim an Oskars kuscheligen Hals heran: „So, nun verabschiede dich mal ordentlich.“ Geduldig beobachtet sie das Ritual. „Warum mein Mann und ich drei Down-Kinder aufgenommen haben?“, nimmt sie die Frage vorweg. „Wir haben zwei gesunde Söhne“, sagt sie. „Wer dieses Glück hat, der sollte etwas von seinem guten Leben, seiner Zeit und seinen Ressourcen mit denen teilen, denen es nicht so gut geht.“ Sie blickt zu Melissa herüber, die gerade eine Voltigier-Übung absolviert und zu Naomis Vergnügen falsch herum auf Lunas Rücken sitzt. „Super, Melissa!“ ruft Simone Guido ihr zu. „Außerdem sind wir so, wie wir sind, eine absolut zufriedene Familie – glücklich kann man nämlich auch mit behinderten Kindern sein.“
Schwimmen, Reiten, Tanzen – volles Programm
Die Reitstunde ist vorbei. Tim, Melissa und Naomi steigen in den Familien-Van. Melissa will ein Eis. Naomi klagt über Halsschmerzen. Tim hantiert im Wagenfond herum. Simone Guido legt den Gang ein. Bis ihr Mann von der Arbeit nach Hause kommt, dauert es noch ein paar Stunden. Als sie die Einfahrt herauf fährt, wartet Sohn Marco schon ungeduldig auf das Auto – er muss noch etwas besorgen. Naomi und Melissa tragen ihre schmutzigen Sachen zur Waschmaschine. Tim wird zappelig. „Er braucht jetzt eine Dusche“, sagt Mutter Simone. Morgen Nachmittag steht „Basketball“ für Melissa und „Logopädie“ für Naomi auf dem Familienplan. Im weiteren Wochenverlauf: DLRG-Schwimmen, Ergotherapie, Kinderturnen und Musical-Probe. Mutter Simone atmet tief durch und nickt entschlossen: Ja, es gibt viel zu organisieren. Und das erst recht auf lange Sicht.
Eigenes Buch eröffnet Perspektiven
Zurzeit planen Bernhard und Simone Guido ein Wohnprojekt für Tim, Melissa und Naomi. Im Obergeschoss ihres Siedlungshauses sollen die drei – und eventuell auch noch weitere Menschen mit Behinderungen – familiennah, betreut und doch für sich leben. Um diesen Traum auch finanziell verwirklichen zu können, haben diesmal die Guidos die Öffentlichkeit gesucht. Anlässlich von Tims 18. Geburtstag haben sie ein Buch über ihren Pflegesohn geschrieben: „Tim lebt! Wie uns ein Junge, den es nicht geben sollte, die Augen geöffnet hat“ – „Wir hoffen, dass wir das Wohnprojekt mit dem Erlös aus dem Buchverkauf umsetzen können“, sagt Simone Guido und macht sich auf den Weg zum Gefrierfach, „ das wäre eine schöne Perspektive für die Familie.“ Melissa und Naomi werfen sich zufriedene Blicke zu: War doch klar, dass ihre Mutter das mit dem Eis nicht vergessen würde.
(Erschienen in: Bersenbrücker Kreisblatt, 10. 2015)