Eigentlich wollte ich – zwecks Berichterstattung – nur für ein oder zwei Stunden in die Auftaktveranstaltung des 23. Westerkappelner Gospel-Workshops hineinschnuppern. Die Atmosphäre spüren. Mich vielleicht sogar kurz in den Chor der Teilnehmer einreihen. Eigentlich. Inzwischen weiß ich: Wer den Kosmos von Judy Bailey und ihrer Band betritt, sollte sämtliche Planungen über Bord werfen und auf elementare Überraschungen gefasst sein.
Jetzt stehe ich im Altarraum der ausverkauften Westerkappelner Stadtkirche, habe weiche Knie und ein kribbeliges Gefühl im Magen – und kann es noch immer nicht glauben, wie ich so mir nichts, dir nichts zum aktiven Mitglied eines Gospelchores geworden bin: der erste öffentliche Gesangsauftritt meines Lebens! Als eine von etwa 160 Sängerinnen und Sängern blicke ich in die erwartungsvollen Augen des Publikums – und fiebere meiner Premiere entgegen. Wie es zu dieser unverhofften Entwicklung kommen konnte? Hier das Protokoll eines überwältigenden Wochenendes.
Freitag, 19 Uhr, Haus Bonhoeffer: Man kann Kantor Martin Ufermann den Stolz und die Freude ansehen, als er das Referenten-Team des 23. Westerkappelner Gospel-Workshops vorstellt: Mit Judy Bailey ist nicht nur eine international renommierte Weltmusikerin und Komponistin angereist, sondern auch eine bekennende Christin und ambitionierte Kämpferin für Respekt, Toleranz und Frieden. Unterstützt wird die in London geborene, auf Barbados aufgewachsene und mittlerweile in dem kleinen Ort Alpen am Niederrhein lebende Künstlerin von ihrem Mann Patrick Depuhl (Moderator), dem Kölner Thilo Speckmann (Gitarre) und Leroy Johnson (Chorleiter) aus Leeds, Großbritannien. Johnson spricht ausschließlich Englisch, aber seine überbordende Energie und sein ansteckender Humor bringen die Workshop-Teilnehmer an diesem Abend immer wieder zum Lachen, oft noch bevor Patrick Depuhl die Worte übersetzt hat. Der Brite erweist sich als Entertainer, Motivator, Improvisator und exzellenter Didaktiker in Personalunion – und ist einer der Gründe für mich, einfach noch ein bisschen länger zu bleiben…
Bevor die Gruppe das erste von insgesamt sieben Liedern aus dem Programmheft angeht, gilt es Grundsätzliches zu klären: Wer hat Chorerfahrung, wer nicht? Wer kann Noten lesen, wer nicht? Wer kennt seine Stimmlage und wer nicht? Zusammen mit etwa einem Dutzend anderer oute ich mich als – musikalisch betrachtet – eher unbeschriebenes Blatt. „Hauptsache du hast Lust auf Singen“, sagt Judy Bailey mit diesem einladenden Lächeln, das reine Zuversicht und unerschütterliches Vertrauen ausstrahlt. „Kommt mit uns auf eine kleine Reise – wir werden viel entdecken.“ Sie zwinkert uns auffordernd zu, spielt ein paar Akkorde auf ihrer Gitarre und bekennt in ihrer erdigen Tenorstimme: „Ich bin so dankbar dafür, dass wir heute hier zusammenkommen dürfen – wir werden viel Spaß miteinander haben und erleben, wie die Musik etwas in uns bewegt – und dann am Sonntag hoffentlich auch in den Menschen, die zum Konzert kommen.“
Na, dann mal: „Bis morgen!“
„Wie kann jemand nur so eine positive Ausstrahlung haben wie diese Frau?“, fasst meine Sitznachbarin Simone Schmidt aus Büren am Ende des Abends, nachdem wir vier Lieder durchgearbeitet haben, auch meine Begeisterung in klare Worte. „Und Leroy Johnson erzieht uns“, fährt sie schmunzelnd fort, „ohne dass man es ihm übel nehmen könnte.“ Genau wie Simone Schmidt und ihre Nachbarin Marlies Bischof, bin auch ich ganz angetan vom gemeinschaftlichen Singen (Martin Ufermann: „Wer keine Noten lesen kann und wem der Text gerade nicht einfällt: Last euch einfach vom Chor tragen!“) und gespannt darauf, wie sich der Workshop weiterentwickelt. So gespannt, dass ich ein fröhliches „Bis morgen!“ gar nicht erst zurückzuhalten versuche.
Samstag, 10 Uhr: Ein strammes Programm wartet auf uns. Denn während wir den Vormittag über sämtliche sieben Stücke intensiv proben (Leroy Johnson: „Es ist schwer, aber es ist nicht unmöglich!“ und „Es wird vielleicht nicht perfekt, aber es wird fantastisch!“) sind am Nachmittag drei zusätzliche Workshops angesetzt: Für die Solisten, von denen einige zum ersten Mal vor großem Publikum singen, nimmt sich Judy Bailey besonders viel Zeit. Mit unnachahmlichem Charme und unerbittlicher fachlicher Strenge vertieft Leroy Johnson derweil das harmonische Zusammenwirken der Chorsänger und übt mit ihnen, wie sie ihren ganzen Körper zum Klingen bringen – mit Herz und Verstand, Gefühl und Seele. Ich schließe mich den rund 50 Personen an, die vom heute dazu gestoßenen Daniel Jacobi, Schlagzeuger und Percussion-Profi aus Heidelberg, mehr über Rhythmus und Groove erfahren möchten.
Dem Vorurteil, entweder jemand habe Rhythmus im Blut oder eben nicht, tritt Jacobi entschieden entgegen: „Rhythmus ist ein logisches Prinzip, das man lernen kann.“ In der Tradition der Bodypercussion dient uns Workshop-Teilnehmern unser Körper als Instrument. Wieselflink raspeln wir Sechzehntel-Noten mit der einen auf die andere Handfläche, stampfen den Beat mit dem Stiefel auf den Boden und klatschen abwechselnd eingängige Rhythmen wie „Panama Panama Kuba“ oder „Fanta Fanta Coco Cola“ oder auch „Mezzo Mix Mezzo Mix“. Wie gut, dass es Eselsbrücken gibt!
In der Kaffeepause treffe ich Anne Gutzeit, ihren Mann Andreas und ihre erwachsene Tochter Astrid Gutzeit-Asabre aus Wersen. Sie sind alte Gospel-Workshop-Hasen und betrachten das Angebot auch ein wenig als Wellness-Wochenende für die Seele: „Jeder Workshop hier ist anders – aber jeder Workshop hier ist toll“, sagt Anne Gutzeit. Außer aus Westerkappeln und Lotte sind auch Teilnehmer aus Bramsche, Osnabrück, Rheine, Münster, Lüdinghausen, Marburg, Bonn und Kassel dabei. „So viele unterschiedliche Menschen sind hier“, staunt Patrick Depuhl, „und doch fühle mich bei euch total family.“ Ja, seufze ich still in mich hinein – ich weiß genau, was Depuhl meint… Nur noch eine gemeinsame Probe steht an, dann geht auch dieser Tag – der letzte, den ich mir für meine Berichterstattung vorgenommen habe – zu Ende. „Warum bleiben Sie nicht einfach bis zum Schluss und machen das Konzert auch noch mit?“, fragt Martin Ufermann, „das wird bestimmt ein eindrucksvolles Erlebnis.“ Ja, warum eigentlich nicht…?
Sonntag, 14 Uhr, Stadtkirche: Wie hatte es der Kreiskantor in seiner Begrüßung am ersten Tag formuliert – Nebenwirkungen wie Ohrwürmer seien bei diesem Workshop nicht auszuschließen. Mich hat es voll erwischt: Als ich heute Morgen aufgewacht bin, war der Chor bereits in meinem Kopf aktiv. Seitdem wird „I believe in God“ in Endlosschleife durch meine Synapsen gepumpt… Nun also die Generalprobe: Nach dem Soundcheck gehen Judy Bailey, Leroy Johnson, diesmal am Bass, und Martin Ufermann ein letztes Mal das Programm mit uns durch. Wir verpassen einen Einsatz, artikulieren nicht klar genug (Johnson: „First word! Das erste Wort muss die Leute direkt umhauen!“) und wenden uns eher verzweifelt denn enthusiastisch den imaginären Gästen zu (Johnson: „Smile! Merry Christmas!“). Immerhin präsentieren sich die Solisten tadellos.
17 Uhr, Einmarsch, Aufstellen – Gänsehaut. Als Judy Bailey, umhüllt von dieser ganz besonderen Aura aus herzerwärmender Empathie und entwaffnender Offenheit, die Bühne betritt, ist der Funke auch schon auf das Publikum übergesprungen, noch ehe wir das Feuer unseres ersten Liedes auch nur entfacht hätten. Irgendwann inmitten des allgemeinen Jubels, der durch die Stadtkirche wogt, gibt Martin Ufermann uns das Zeichen für unseren Einsatz. Bei der Generalprobe noch verhalten und unsicher, hallen die Worte nun kräftig, mitreißend, laut und klar aus uns heraus: „Make some Noise!“, fordert der Song zum Mitmachen auf – was sich die Gäste nicht zweimal sagen lassen. Ganz von alleine wachsen wir alle – Zuhörer, Workshop-Teilnehmer, Judy Bailey und Band – zu einem einzigen, riesigen Gospel-Chor zusammen. Eine solch kollektive Begeisterung und eine derart gewaltige Eruption an leidenschaftlicher Lebensfreude hätte ich noch bis vor Kurzem nicht für möglich gehalten. Nicht bis zu jenem Freitag, an dem ich für eine oder zwei Stunden in die Auftaktveranstaltung des 23. Westerkappelner Gospel-Workshops hineinschnuppern wollte. Eigentlich.
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 19. Februar 2020)