Will der Lotteraner seine westfälischen Knochen in argentinische Rhythmen versetzen, wendet er sich in der Regel ins benachbarte Osnabrück, wo eine lebendige Tango-Szene zum Mitmachen einlädt. Wenn allerdings der Milonga-Aspirant nicht in die Hasestadt kommt, dann kommt das lateinamerikanische Flair zu ihm. Auch mich ehemalige Wersenerin kribbelt es beim Schnuppertangoabend in der Mettinger Draiflessen Collection in den Füßen…
„An die Männer gerichtet: Beim Tango Argentino führe ich, ohne zu führen“, erklärt Ralf Brand von der Tanzschule „Tango Fuego“ aus Osnabrück, „die Bewegung passiert einfach, nur indem ich sie mache.“ Mit forschen, aber zugleich spektakulär lässigen Schritten durchmisst Brand das weitläufige Museumsfoyer und demonstriert seinen Geschlechtsgenossen, mit welcher Prise selbstbewusster Nonchalance sie ihre motorische Koordination in den kommenden Stunden würzen sollten. Ein entschiedenes, klares Vorwärtsgehen, aufrecht, aber keinesfalls steif; selbstbewusst, aber nicht übertrieben. Und natürlich: im Takt der Musik.
„Wir gehen so viele Schritte geradeaus, wie wir wollen, und machen Wiegeschritte, wann und so viele wir wollen, mal nach links, mal nach rechts“, veranschaulicht Brand mit der Eleganz eines durchtrainierten Stubentigers die jedem männlichen Teilnehmer selbst überlassene Choreografie. Der ein oder andere Tanzmuffel guckt betreten zu Boden und ahnt womöglich, dass er gerade zum Opfer seiner eigenen guten Vorsätze für das neue Jahr geworden ist. Freies Improvisieren – so ganz ohne konkreten Plan und feste Regeln – das gehört nicht unbedingt zu den Kernkompetenzen eines Westfalen. Jedenfalls nicht auf der Tanzfläche. Aber Violine, Bandoneon, Klavier und Kontrabass verführen auf ein unbekanntes Terrain, das sich mit den ordentlich durchstrukturierten Figuren des Discofox nicht erobern lässt.
Die Bewegung des Partners erspüren
Um die 200 Gäste sind an diesem Januarabend in die Mettinger Draiflessen Collection gekommen, um sich unter Anleitung von Ralf Brand und seiner Tanzpartnerin Barbara Otto in den Grundschritten des klassischen Tango und des Tango Vals zu versuchen. Außer aus Lotte und Westerkappeln sind die Freizeitargentinier auch aus Bielefeld, Münster, Paderborn, Osnabrück und dem Emsland angereist.
„Die Freunde des Tango sind sehr mobil“, sagt Brand, „die fahren auch schon mal mehrere Stunden Auto, um an einem so speziellen Ort wie diesem zu tanzen.“ Anlass für das ungewöhnliche Angebot des kleinen, aber gut sortierten Museums in der westfälischen Provinz, ist dessen noch bis zum 26. Januar 2020 gezeigte Ausstellung „Liebe“, in der es um die oft so widersprüchlichen Spielarten eines großen Gefühls geht: Nähe und Distanz, Erfüllung und Enttäuschung, Hingabe und Eifersucht, Leidenschaft und Wehmut. Just jener aufwühlende Wirrwarr an Emotionen also, die sich allesamt auch in den Ausdrucksformen des Tango Argentino wiederfinden. Werden sich die bodenständigen Lotteraner, Westerkappelner und Bielefelder schließlich doch noch für die leichtfüßigen Variationen dieses – unter den Einflüssen von Einwanderern, Landarbeitern und Gesetzlosen gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Buenos Aires und Montevideo entstandenen – Tanzes erwärmen?
Rollenklischee trifft auf Emanzipation
So zögerlich einige der Herren noch um ihre pedale Entschlossenheit ringen, so willens und zielorientiert wirken ihre Partnerinnen – und scheinen zumindest in ihrem Inneren schon ungeduldig mit den Pumps zu scharren. Doch der Frau falle beim Tango Argentino erst einmal die Rolle der Geführten zu, bremst Ralf Brand den weiblichen Enthusiasmus. Sie lehne sich sanft gegen den Mann, lasse sich zart von ihm zurückschieben und sei dafür zuständig, die physische Verbindung herzustellen. Beim Tango Argentino spreche man hierbei bezeichnenderweise auch nicht von einer Tanzhaltung, sondern von einer Umarmung. „Durch diesen engen körperlichen Kontakt erspürt die Frau die Bewegung ihres Partners und spiegelt diese wider.“ Kurzum: Energisches, aber planloses Voranstürmen trifft auf Einfühlungsvermögen und vorausschauendes Denken. Klingt nach einer ganz normalen Beziehung, oder?
Wie vielfältig die tänzerischen Gestaltungsmöglichkeiten sind, die sich aus dieser Konstellation ergeben, lässt sich anschließend bis spät in die Nacht im Foyer der Draiflessen Collection bewundern, als auch die fortgeschrittenen Tänzer das Parkett betreten und zur Livemusik des Berliner Ensembles „Quarteto Rotterdam“ sämtliche Facetten ihres Könnens und des Tango Argentino zeigen: Da synchronisieren sich Empathie und Führungspersönlichkeit. Rollenklischees gehen auf Tuchfühlung mit der Emanzipation. Temperament vereinigt sich mit Humor. Frau trifft auf Frau und Mann auf Mann. Doch allen voran begegnen sich an diesem ganz besonderen Ort (fast) im Herzen des Tecklenburger Landes die Freude an der Musik und der Spaß an der Bewegung.
Die Draiflessen Collection, Georgstr. 18, in Mettingen, bietet am 26. Januar 2020 um 14 und 15 Uhr jeweils eine einstündige öffentliche Führung durch die Ausstellung „Liebe“ an. Am 22. März wird dann unter dem Titel „Hoffnung“ der dritte Teil der Ausstellungstrilogie „Glaube, Liebe, Hoffnung“ eröffnet. Auch hierzu wird ein abwechslungsreiches Begleitprogramm angeboten, unter anderem gibt es am 30. April von 15 bis 17 Uhr eine Führung für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen. Am 16. Mai heißt es von 11 bis 16 Uhr: Kinder führen Besucher. Weitere Infos auf www.draiflessen.com.
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 22. Januar 2020)