Bühne frei für Hedwig Schmees, Julia Schmidt und Hartmut Grünloh! Schade eigentlich, dass die Näherin, ihre Praktikantin und der Hausmeister ihre experimentelle Performance mit akrobatischer Einlage unter Ausschluss der Öffentlichkeit aufführen. Unter dem Titel „Der zerrissene Vorhang“ hätte die spektakuläre Reparaturshow es verdient, in die Annalen der Artländer Theaterkunst einzugehen.
Prolog: Hartmut Grünloh, Hausmeister des Artland Gymnasiums Quakenbrück (AGQ), hält beinahe zärtlich einen der schwarzen Vorhänge, die die Bühne der Aula flankieren, in den Händen und deutet besorgt auf eine von provisorischem Flickwerk zusammengehaltene Stelle. Hier wäre ein dramatischer Tusch angemessen, aber wegen der minimalistischen personellen Ausstattung des Stückes – noch ist Grünloh der Einzige hier – bleibt es mucksmäuschenstill im Saal, was aber der Szene nur umso mehr unheilvollen Grusel verleiht.
Der Vergänglichkeit alles Materiellen ist Hausmeister Grünloh zwar bereits vor Wochen mit solidem Handwerk zu Leibe gerückt: Doch selbst Panzerband auf sechs Jahre altem Filz vermag den Verfall nicht aufzuhalten. „Da muss dringend etwas passieren, sonst reißt das immer weiter auf“, deutet er alarmiert auf die textile Wunde – und das nicht vorhandene Publikum würde sich wohl spätestens jetzt der ganzen Tragweite des Konfliktes bewusst: ein Riss ausgerechnet in jenem sonst doch so zuverlässigen baulichen Rahmen, der dem theatralen Geschehen stets sicheren Halt zu geben vermochte. Fast einen Meter lang ist dieser Riss. Und: Er ist nicht der einzige… Ta-ta-ta-tammm!
Erster Akt: Hedwig Schmees und Julia Schmidt betreten schweigend die Bühne. Jede eine tragbare Nähmaschine in der einen Hand und einen Korb voller Zubehör in der anderen: bunte Garnrollen, Stecknadeln, Scheren, Zentimetermaße, allerlei Stoffreste. Die beiden Frauen sehen sich um, durchmessen bedächtig den Raum, erfassen mit Kennerblick den Ernst der Lage und nicken einander entschlossen zu. Klarer Fall: Die Heldinnen des Dramas sind eingetroffen, um dem Schicksal Paroli zu bieten. Gemeinsam mit Grünloh beratschlagen sie in konspirativer Runde, wie man mit vereinten Kräften eines der kulturellen Zentren der Burgmannstadt, in dem in wenigen Tagen das festliche Neujahrskonzert – vor rund 500 realen Gästen! – aufgeführt werden soll, wieder in einen makellosen Zustand versetzen kann. Ein Lächeln huscht über ihre Gesichter.
Zweiter Akt: Auf der Bühne werkeln die Akteure eifrig an den Herausforderungen der Stunde. Während Hedwig Schmees die schadhaften Stellen inspiziert und passgenaue Flicken zurechtschneidet, schnurrt Julia Schmidts Nähmaschine vor sich hin und unterlegt die Handlung mit optimistischer Unbeirrbarkeit. Hochkonzentriert umkettelt die Praktikantin Stoffstücke, säumt Kanten um und näht die ersten Flicken auf. Überall türmen sich marode Vorhänge: Auf dem Bühnenboden, auf den umher stehenden Tischen, gerade schleppt Hausmeister Grünloh ein weiteres Teilstück aus dem Hintergrund nach vorne. „Ich frage mich, wie das wohl passiert ist“, murmelt er, „ob da bei den Proben einer dran herumgerissen hat?“ Doch hin und wieder müssen Protagonisten auch mal ohne Antworten klarkommen. Das Entscheidende ist, dass die Dinge wieder ins Lot gebracht werden. Und hier scheint sich das Trio mit seinen professionellen Kompetenzen zu bewähren. Nähte gut – alles gut?
Dritter Akt: Von wegen! Wie es sich für ein ordentliches Schauspiel gehört, steigt zum Ende hin noch einmal die Spannung. Zwar haben die Näherinnen mit den Seitenbahnen leichtes Spiel – den härtesten Brocken hat sich Hedwig Schmees allerdings bis zum Schluss aufgehoben: Ausgerechnet in dem den Zuschauern zugewandten Hauptvorhang klafft ein deutlich sichtbarer Riss – und das auch noch in etwa vier Metern Höhe…! „Also meine Nähmaschine bekomme ich da nicht hinauf“, seufzt Schmees ratlos. „Der rote Vorhang wird elektrisch bewegt, den können wir nicht abnehmen“, schürt Grünloh die Dramatik. Und weil Hedwig Schmees nicht zaubern kann, wie sie schmunzelnd einräumt, bleibt unserer Heldin nichts anderes übrig, als ihr Herz in beide Hände zu nehmen, Nadel und Faden dazu – und todesmutig die überdimensionale Trittleiter hinaufzuklettern.
„Wisst ihr eigentlich, dass ich Höhenangst habe?“, ruft sie der mitfiebernden Bodentruppe mit kühner Stimme von oben zu. Auf der Spitze der Leiter thronend, beweist die Quakenbrücker Änderungsschneiderin, aus welchem Stoffe sie geklöppelt ist: Stich um Stich befestigt die Retterin des roten Vorhangs mit ruhiger Hand nicht nur einen, sondern gleich zwei Flicken – einen auf dessen Vorder-, den anderen auf der Rückseite. Denn: „Wenn schon, dann auch ordentlich“, lautet ihre Devise, die gut und gerne auch als universelle Moral der Geschichte durchgehen könnte.
Epilog: Wer sich vom neuen Antlitz der alten Vorhänge überzeugen will, kann das am besten in gediegener Atmosphäre zu schönen Tönen machen. Neben dem Neujahrskonzert bieten die Quakenbrücker Musiktage am Sonntag, 19. Januar 2020, ein Konzert mit der klassischen Saxofonistin Asya Fateyeva und dem Stuttgarter Kammerorchester auf der Bühne des AGQ. Am Sonntag, 9. Februar, öffnet sich der rote Vorhang für die Hamburger Gruppe Elbtonal Percussion. Und am Montag, 16. März, wird Klarinetten-Star Andreas Ottensamer mit dem American String Quartet die Festivalreihe mit dem „Frühlingsfinale“ beschließen.
(Erschienen in: Bersenbrücker Kreisblatt, 27. Dezember 2020)