Nur eine Flamme. Viel Luft. Der Himmel. Und wir. Was für ein Abenteuer! Rainer Herkenhoff, Ballonpilot aus Mettingen, und sein Team nutzen das goldene, nahezu windstille Oktoberwetter, um den „D-OJYH“ startklar zu machen. Wer mitflie…, nein jetzt nur nicht das böse Wort benutzen – wer also mitFAHREN will, muss – auch als ahnungsloser Anfänger – vorher kräftig mit anpacken.
„Ein Gefühl für die Dimensionen“
„So kriegt man ein Gefühl dafür, mit welchen Dimensionen wir es da gleich zu tun bekommen“, sagt Routinier Herkenhoff und dirigiert die angehenden Aeronauten auf den kleinen Bolzplatz im Außenbereich von Ibbenbüren. Zusammen mit meinen Reisegefährten – Ernesto (14 Jahre), Emma (12), ihrem Vater Frank sowie Herkenhoffs Tochter Anna-Lena (9) – stiefel ich allerdings eher skeptisch auf die unförmige Gestalt zu, die da wie kollabiert vor uns auf dem Boden liegt: Wurstig, schlaff und ohne Ambitionen wartet die Hülle des Heißluftballons im Gras. Na, ob das gut geht? Wie soll sich so ein schlabbriges Ding in eine stolzgeschwellte Montgolfière verwandeln, der Gravitation trotzen und uns sicher und unbeirrt einem mehr oder weniger fernen, noch unbekannten Ziel entgegen tragen?
Vom Luftstrom wachgeküsst
Doch der fragwürdige erste Eindruck ändert sich, sobald Rainer Herkenhoff den Ventilator in Position gebracht und angeworfen hat. Er zeigt Emma, wie sie die Öffnung der Hülle in Richtung des Gebläses wenden muss, während wir anderen das langgestreckte Kuddelmuddel aus Nylongewebe – Gewicht: etwa 160 Kilogramm – entfalten. Nun kommt Bewegung in die Sache: Wie wachgeküsst vom Hauch des Luftstroms bläht sich die Hülle – sehr gemächlich und noch ganz verschlafen auf der Seite lagernd – langsam aber sicher auf. So groß wie eine Hüpfburg, staune ich – korrigiere mich aber sofort: so groß wie ein Festzelt. Nein – wie ein Flugzeughangar! „4,25 Millionen Liter Luft passen in die Hülle hinein“, übertönt Herkenhoff den Krach des Ventilators und nickt begeistert: „Wenn wir diese Luft gleich mit dem Brenner erhitzen, richtet sich der Ballon zu einer Gesamthöhe von 35 Metern auf.“ Zum Vergleich: Der Wetterhahn auf der Turmspitze der Evangelischen Kirche in Lotte-Wersen dreht sich etwa 33 Meter über dem Erdboden.
Ein Raum, der atmet
Während seine Kollegen Martina Ruelmann und Hermann Wehrmeyer vom Ballon-Team Mettingen schon
mal den Korb mit zwei Brennern, vier mit jeweils 200 Litern einer Propan-Butan-Mischung gefüllten Gasflaschen und weiterem Equipment bestücken, winkt Rainer Herkenhoff mich zu sich: mitten hinein in den von der Ballonhülle aufgespannten und wie lebendig atmenden Raum. Ein anderes Wort als „grandios“ fällt mir, umgeben von dieser ätherischen Macht, die so gar nichts mit der gewohnten Erdenschwere gemeinsam hat, nicht ein – und meine letzten Zweifel, was die bevorstehende Fahrt angeht, lösen sich auf. Keine Frage: Dieses gewaltige Volumen wird uns, ganz gleich wohin der Wind uns weht, zuverlässig befördern.
Ein Virtuose am Brenner
Und das tut der elegant in Silber und Weiß karierte „D-OJYH“ dann auch. Rainer Herkenhoff, der seinen Pilotenschein im Frühjahr 1992 erworben und bereits mehrfach die Alpen mit dem Heißluftballon überwunden hat, legt heute seinen 1060sten Start hin. Ein echter Virtuose am Brenner. Als wir neben dem Ibbenbürener Kraftwerk treiben, zeigt das Variometer eine Höhe von 579 Metern an. Den Turm der St. Agatha Kirche in Mettingen passieren wir so dicht, dass wir dem Wetterhahn dabei tief in die Augen blicken können. Funkgerät, GPS-Navigation, Anzeige der Windverhältnisse und der Temperatur in der Hülle (85 Grad Celsius) – Herkenhoff hat alles unter Kontrolle: „Wenn man es darauf anlegt“, erklärt er, „kann so ein Ballon eine Steiggeschwindigkeit von acht Metern pro Sekunde erreichen.“ Eine Grenze, die wir an diesem lauen Herbsttag nicht ausreizen müssen: Sanft schweben wir über die weiten Flächen der Düsterdieker Niederung am Rande von Westerkappeln. Beobachten, wie ein emsiger Wichtel seine bunt gescheckte Herde Milchmäuse zum Melken in die Stallungen treibt, wie sich winzige Spielzeugmaschinen in akkurater Formation über geometrisch verlegte Maisteppichfliesen bewegen – und kommen schließlich butterweich auf einer frisch abgeernteten Wiese zum Stehen. „Das ist es, was ich am Ballonfahren so mag“, strahlt Herkenhoff: „Wer in den Korb einsteigt, weiß nie, wo er landen wird.“ Er streicht seiner Tochter Anna-Lena über den blonden Schopf und lächelt zufrieden: „Und genau darin liegt doch das Abenteuer.“
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 14.10. 2015; Westfälische Nachrichten, 14.10. 2015)