Ein irritierendes Angebot unterbreiten die Guides der Draiflessen Collection in Mettingen ihren Gästen: eine Führung durch die Ausstellung mit verbundenen Augen. Kunstbetrachtung ohne Sichtkontakt – ist das nun absurd oder inspirierend? In selbst gewählter Desorientierung wage auch ich mich zwischen die Gemälde und Skulpturen. Ein Experiment.
Zwölf Objekte aus dem 19. bis 21. Jahrhundert hat Kuratorin Olesja Nein für die aktuelle Präsentation „Liebe“, den zweiten Teil der Trilogie „Glaube – Liebe – Hoffnung“, zusammengestellt. Ein angenehm übersichtliches Panoptikum mithin, das dem Besucher viel Zeit zum Studieren der einzelnen Exponate lässt. Doch was bringt dem seiner Optik Beraubten das ausgefeilteste Rezeptionskonzept, wenn er die Bilderschau nicht schauen kann? „Lassen Sie sich darauf ein, mit anderen Sinnen die Kunst zu erfahren“, laden die Gästeführerinnen Ute Bühning und Katja Pahlmann die kleine Gruppe wagemutiger Kulturbeflissener zu einer ungewöhnlichen Reise in die Tiefen der eigenen Wahrnehmung und die Wankelmütigkeit des persönlichen Vorstellungsvermögens ein.
Ein ästhetisches Abenteuer
Also frisch voran und mitten hinein in das ästhetische Abenteuer: Schlafbrille aufgesetzt und vorsichtig Schritt für Schritt in die – zumindest an diesem Abend – so dustere Welt der Liebe getrippelt. Erhellt und in Szene gesetzt nur durch die Beschreibungen, mit denen die beiden Kunstvermittlerinnen die Farben und Formen, die Figuren und Szenerien, die Pinselstriche und Signaturen der jeweiligen Künstler in unsere Hirne funken. Die spannende Frage dabei: Sind Wörter stark genug, Bilder in den Köpfen der Zuhörer zu erzeugen? Und: Wie exakt sind diese Nachahmungen?
Die Phantasie in Gang setzen
Dass Lieblingsbücher die Phantasie ihrer Leser in Gang setzen, hat wohl jeder schon im eigenen Kopfe erlebt. Und die meisten von uns werden vermutlich einen ziemlich genauen Entwurf – Größe, Statur, Gesichtszüge – ihrer literarischen Helden in sich tragen. Allerdings dürften diese fiktiven Gestalten bei jedem von uns eine markante eigene Ausprägung annehmen. Mit anderen Worten: Wer war zuerst da – mein ganz persönlicher Harry Potter oder Daniel Radcliff?
Doch statt eines variabel ausstaffierten Kopfkinos haben sich Bühning und Pahlmann etwas ungleich Anspruchsvolleres vorgenommen: Sie wollen ein real existierendes Museumsinventar im Gedankengebäude ihrer Schützlinge entstehen lassen. Soll heißen: Genau definierte Kunstwerke sollen in Wörter, Gerüche und Tasterlebnisse zerlegt und in der Imagination der Besucher als Duplikat des Originals möglichst deckungsgleich wiederhergestellt werden. Ob das funktioniert?
Eine leere Leinwand
„Wir stehen vor einem großen, opulenten Gemälde, einem Ölbild“, beginnt Katja Pahlmann ihre Beschreibung, „es ist von einem bronzefarbenen barocken Rahmen umgeben, etwa 1,60 Meter hoch und 1,10 breit.“ Wie auf einer Staffelei bildet sich in meinem Kopf eine Leinwand – die allerdings noch komplett leer ist. Pahlmann liefert die erste Farbschicht in Form von Adjektiven – hell und dunkel, blass und ermattet, zart und verletzlich; die abgebildete Frau, die einen Säugling im Arm halte, sei jung, anmutig und wunderschön.
Es folgen Pahlmanns Empfindungen beim Betrachten des Gemäldes: Sie erzählt von Mutterliebe und großen Emotionen. „Ich stelle mir vor, wie der Säugling duftet…“, flüstert sie uns zu. Das sind die Stichworte für Ute Bühning, eine Dose herumzureichen, an der wir schnuppern dürfen – Babycreme! Assoziationen wabern durch die Sinne und wecken Erinnerungen… das Bild in meinem Kopf wird immer schärfer. Da breite sich allerdings auch noch ein anderes Gefühl in ihr aus, räumt Pahlmann kurz darauf ein, eine Verstörung – „Irgendetwas passt hier nicht zusammen…“ Das Kind sei merkwürdig erschlafft, ein Blutfleck an der Hand der Mutter… „Was ist passiert?“, fordert sie uns zum Mitforschen in trüben Gefilden, in verschwommenen Konturen, auf.
Doch nicht so wie erwartet
Als wir das Gemälde schließlich mit eigenen Augen betrachten dürfen, sieht es – trotz Pahlmanns dezidierter verbaler Ausmalung – doch irgendwie ganz anders aus. „Ich hatte mir das Kind viel größer vorgestellt“, sinniert eine ältere Frau. Ein anderer ist überrascht vom scharfen Hell-Dunkel-Kontrast. Und während wir unser inneres, von der eigenen Einbildungskraft kreiertes Bild mit dem tatsächlichen Werk abgleichen, sie im Geiste wie Schablonen übereinander schieben und die Unterschiede beschreiben, befinden wir uns auch schon in einem angeregten Austausch über das Gesehene und Nicht-Gesehene. Welche Details haben die Guides ausgelassen? Welche verborgenen Kunstgriffe hätten wir sogar sehend übersehen? Die Frage, was für eine Situation der Künstler Gabriel Cornelius Ritter von Max hier denn eigentlich darstellt, wird durch den nachgereichten Titel schnell beantwortet: „Die Kindsmörderin“.
Insgesamt vier Objekte stellen uns Katja Pahlmann und Ute Bühning vor – wir ertasten steinerne Herzen und schnuppern an duftigen Äpfeln, erspüren grobes Holz und lauschen gebannt, was die Kunst und deren Vermittlerinnen uns zu sagen haben. Nie trifft unsere Phantasie auch nur annäherungsweise das Original, aber durch die emsigen Versuche, dem Künstler in unserem eigenen Gedankenatelier nachzueifern – und das auch noch im Blindflug, bauen wir ein ungewöhnlich enges Verhältnis zu den Werken auf. „Das war eine sehr berührende Erfahrung, so ohne Augen zu sehen“, bedankt sich eine Teilnehmerin am Ende der Führung bei den beiden Guides. „Sie haben ja sehr Vieles gesehen“, korrigieren Pahlmann und Bühning sie sanft, „nur eben: durch unsere Augen.“
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 20. November 2019)
Nachtrag: So sieht es aus: