Wohl in der kühnen Annahme, die Muse ließe sich im Galopp erobern, hat die Buchhandlung Volk in Recke zu einem Literarischen Speed-Dating eingeladen. Auf Geschwindigkeit setzen statt auf Bedacht beim Anbahnen einer zarten Leser-Buch-Beziehung – na, ob das klappt? Skeptisch mache mich auf den Weg zum Wettrennen der Bücher.
In der seit 1986 in der Gemeinde Recke beheimateten Buchhandlung von Helga Volk und ihrem Mann Andreas Böcker schwelt eine erwartungsvolle Spannung. Hundert Stühle, berichtet Volk, haben sie, ihr Mann und das Team zwischen den wohlsortierten Büchertischen aufgestellt – und die meisten von ihnen sind besetzt an diesem Abend. Das Gros der bekennenden Leserinnen sowie zwei wagemutige Herren, die zum Literarischen Speed-Dating gekommen sind, verströmen kribbelige Aufgeregtheit. Warten ungeduldig auf inspirierende Begegnungen. Auf attraktive Partner aus Papier, mit denen sie berührende, erheiternde oder ergreifende Fiktionen teilen oder fantastische Abenteuer erleben können. Gemeinsam Verbrechen aufklären, auf Reisen gehen, in die Vergangenheit oder in die Zukunft entschwinden.
Wie findet man den Richtigen oder die Richtige?
Aber wie findet man den Richtigen (Roman) oder die Richtige (Erzählung), mit dem oder der man in anregender Vertrautheit durch das Dick und Dünn der vielen Tausend geschriebenen Worte gehen kann? Denn mal ehrlich: Ob 800-Seiten-Wälzer oder schlankes Heftchen – guckt man Büchern beim ersten Date nicht doch nur vor das Cover? Und weiß man, ob ein Klappentext oder eine wohlwollende Rezension am Ende das halten, was sie versprechen? Auch bei der literarischen Partnervermittlung im Internet habe ich schon die eine oder andere Enttäuschung erlebt.
Starterliste mit allen wichtigen Eckdaten
Für Helga Volk und ihre Mitstreiter ist das Zusammenbringen von Leser und Literatur eine Herzensangelegenheit. „Wir stellen heute keine Neuerscheinungen vor, sondern tatsächlich unsere ganz persönlichen Lieblingsbücher“, kündigt sie an. Insgesamt 51 Leseschätze haben die vier Profis – Helga Volk, ihre Mitarbeiterinnen Nancy Rohling und Rendel Kerk sowie Verlagsvertreter Matthias Rybak – beim Durchforsten ihrer privaten Regale zutage gefördert. Und wie bei jedem ordentlichen Wettbewerb, bei dem rasante Geschwindigkeiten gefragt sind – ob bei der Tour de France, beim Großen Preis in Hockenheim oder beim Kentucky Derby – gibt es auch beim Literarischen Speed-Dating eine mit allen wichtigen Eckdaten versehene Starterliste. Die sich, wie sich alsbald herausstellt, vor allem als Erinnerungshilfe verdient macht.
Ein Zauber breitet sich aus…
Punkt 19.30 Uhr senkt sich das Lesezeichen: Auf der Poleposition blättert Gastgeberin Helga Volk das erste Buch auf – „Blind“ von Christine Brand, ein Krimi. Nichts für mich, schalte ich auf Durchzug, denn dem imaginären Verbrechen habe ich bisher noch nie viel abgewinnen können. Doch ist es die aufrichtige Begeisterung, die in ihrer Stimme liegt, als Volk von ihrem Leseerlebnis erzählt? Die sehr persönlichen Anmerkungen zum Inhalt und zur Wirkung? Die Spätfolgen der Lektüre, über die sie berichtet? So richtig greifen kann ich den Zauber nicht, der sich da unwiderstehlich ausbreitet, aber irgendwie weckt das Team Volk/Brand nicht nur meine Sympathie, sondern auch meine Neugier. Und das in sage und schreibe nur knapp zwei Minuten!
Zweieinhalb Minuten pro Buch – reicht das?
36 Bücher in eineinhalb Stunden stellen die vier Buchhändler an diesem Abend vor – das sind zweieinhalb Minuten, die sie im Schnitt bei jedem Werk verweilen. Reicht das? Lässt sich das Wesentliche einer guten Geschichte wirklich in einer solch kurzen Zeit vermitteln? Als Matthias Rybak „Ben Fletchers total geniale Maschen“ von T.S. Easton präsentiert, ergibt sich für mich ganz per Zufall die Probe aufs Exempel: Denn Ben Fletschers amüsante Verstrickungen stehen auch auf der Liste meiner Lieblingsbücher ganz weit oben. Und ich bin baff wie kurz, knapp und treffend Rybak die Seele dieses Textes zusammenfasst und, in seine eigenen Worte gekleidet, auf den Punkt bringt.
Dialog mit der heimischen Bücherwand
Vielleicht ist ja gar nicht das Tempo der Präsentation das ausschlaggebende Element des Speed-Datings, dämmert es mir, sondern die mit Muße getätigte Vorbereitung: Das Zen des geduldigen Buchrücken-Scannens, das bewusste Sich-Zeit-Lassen bei der Auswahl der Titel, der innige Dialog mit der heimischen Bücherwand und das achtsame Lauschen auf das, was jeder einzelne Band einem auch nach schon länger zurückliegender Lektüre noch zu sagen hat. Das Nachhallen seiner Sätze und die wohlige Erinnerung an die gemeinsamen Stunden, Tage oder sogar Wochen.
Kreuzchen und Ausrufezeichen
Als ich die Volk’sche Buchhandlung verlasse, schwirrt mir schon ein wenig der Kopf vom Rausch der Geschwindigkeit. Die Starterliste, auf der ich diverse Titel mit einem Kreuz, andere mit einem Fragezeichen und nicht wenige mit „!!!“ gekennzeichnet habe, liegt auch Wochen später noch sorgsam verwahrt in meiner Schreibtischschublade. Und auf meinem Nachttisch wartet mittlerweile ein dickes schwarzes Buch auf mich: „Blind“, von Christiane Brand…
Lieblingsbücher (Auswahl):
Helga Volk: Arthur und die Farben des Lebens (Jean-Gabriel Causse), Solo für Opa (Thomas Krüger), Der Krokodildieb (Taran Bjørnstad ). Nancy Rohling: Adams Erbe (Astrid Rosenfeld), Vom Ende der Einsamkeit (Benedict Wells), Die einzige Geschichte (Julian Barnes). Rendel Kerk: Spaziergang mit Hund (Sven Nordqvist), Fische, die auf Bäume klettern (Sebastian Fitzek), Was man von hier aus sehen kann (Mariana Leky). Matthias Rybak: Die hohe Kunst des Bankraubs (Christopher Brookmyre), Warte nicht auf bessre Zeiten (Wolf Biermann), Abschlussball (Jess Jochimsen).
Alle Infos zu weiteren Veranstaltungen (Lesungen, Musik, Comedy) in der Buchhandlung Volk auf www.buch-volk.de.
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 31.07.2019)