Manchmal hat man keine Wahl. Auch als Fischotter nicht. Dann muss es halt die Düte sein. Oder die Hase. „Obwohl beide Gewässer an etlichen Stellen in einem Zustand sind, der sie als Lebensraum für den Fischotter nicht gerade geeignet macht“, urteilt Diplom-Biologin Anja Roy. Wenn sie nicht als langfristige Bleibe taugen, warum tauchen dennoch an beiden Flüssen hin und wieder Fischotter auf?
Während der ahnungslose Laie das Plätschern der heimischen Flüsse genießt, unbeschwert die Uferwege entlang stiefelt und die dörfliche Wasserwelt – vielleicht nicht in bester, aber doch in hinreichender Ordnung wähnt, nehmen Biologen und Fischotter die Landschaft ganz anders wahr: Naturfern gestaltete Böschungen. Schmale, artenarme und landwirtschaftlich oft übernutzte Uferrandstreifen. Künstliche Hindernisse aus viel Stahl und noch mehr Beton – wie das Wehr bei Bramsche, wo die Hase in einem Düker verschwindet und unter dem Mittellandkanal hindurch geleitet wird.
Selten, scheu und überwiegend nachtaktiv
„Ökologisch betrachtet sind die Randbereiche und die Uferzonen der Hase und der Düte, da wo sie intensiv bewirtschaftet werden, eine Katastrophe“, beschreibt Roy den Zustand der Natur. Viermal im Jahr inspiziert die selbstständige Freilandbiologin im Rahmen eines Monitorings (Bestandsaufnahme) nahezu sämtliche markante Orte im Kreis Steinfurt, an denen sich der Fischotter trotz allem ökologischen Übel halbwegs wohlfühlen – oder nüchterner formuliert: an denen er einigermaßen zurechtkommen – könnte. „Dazu gehören auch die Hase und die Düte“, sagt Roy. Außerdem steht die Düsterdieker Niederung mit ihrem verzweigten Gewässersystem unter der Beobachtung der Fachfrau. Die Lienenerin, die an der Universität in Osnabrück studiert hat, ist Mitglied der „Otter Spezialist Group“ der „International Union for Conservation of Nature IUCN“ – zu Deutsch: Internationale Union zur Bewahrung der Natur – auch „Weltnaturschutzunion“ genannt.
Vorsichtig, jeden ihrer gummibestiefelten Schritte mit Bedacht setzend, balanciert sie die Böschung der Hase kurz oberhalb der Düte-Einmündung in Halen hinab zur Wasserlinie. Weil der Otter ein scheuer Geselle und überwiegend nachtaktiv ist, bekommt auch die Wissenschaftlerin ihn selten wenn überhaupt einmal zu Gesicht – und ist auf indirekte Spuren und Indizien angewiesen, wenn sie sein Vorkommen in einem bestimmten Gebiet nachweisen will. „Wer Trittsiegel oder Kot vom Fischotter sucht, wird am ehesten unter Brücken fündig“, erklärt Roy. Denn hier im ständigen Schatten wächst die Vegetation häufig weniger üppig, sodass der sandige Boden die Pfotenabdrücke des bis zu zwölf Kilogramm schweren Wassermarders aufnimmt und eine Zeitlang bewahrt.
Was an Düte oder Hase könnte Lutra lutra gefallen?
„Nein, nichts…“, stellt die Biologin nicht im Mindesten überrascht fest und lässt den Blick über die Uferbereiche schweifen. Ihr Gesichtsausdruck verrät, dass sie alles andere als begeistert ist von dem, was sie vor Ort an natürlich gewachsenen Strukturen noch vorfindet – von Vielfalt keine Spur. An was hier könnte der Fischotter Gefallen finden? „Die Böschungen sind überwiegend kanalisiert und mit Steinen befestigt, eine Beschattung durch Bäume fehlt häufig komplett.“ Mit anderen Worten: Das Hase-Düte-System bildet über weite Strecken eine typische, vom Menschen beeinflusste und naturfern gestaltete Gewässerkulisse. Wo beispielsweise könnte Lutra lutra, so der wissenschaftliche Name des Fischotters, im Verlauf der beiden Flüsse durch die Gemeinde Lotte einen brauchbaren Unterschlupf für sich, geschweige denn für seinen Nachwuchs, anlegen?
„Viele Menschen wissen gar nicht, dass der Fischotter in einer Nacht bis zu 20 Kilometer und mehr zurücklegt“, beschreibt Roy die beachtliche Umtriebigkeit des possierlichen Marders. Entsprechend groß – und entsprechend weitläufig ökologisch intakt – müssen seine Reviere sein. Und weil er sowohl im Wasser wie auch an Land gleichermaßen flink unterwegs sei, habe es der versierte Stöberjäger in der modernen Industrielandschaft besonders schwer. „So schwierig es ist, den Fischotter anhand von Trittsiegeln oder Kot nachzuweisen“, seufzt Roy und zuckt die Achseln, „umso leichter und leider auch häufiger findet man überfahrene Tiere – oft in der Nähe von Brücken, Wehren oder Schleusen.“
Noch bis in die 1940er Jahre war der Fischotter auch im Kreis Steinfurt heimisch. Doch mit der Begradigung der Flüsse und dem Ausbau der Gewässer verschwand er mehr und mehr aus der Region, bis seine Bestände schließlich so drastisch zurückgingen, dass das Bundesnaturschutzgesetz ihn heute als „streng geschützte Art“ führt und er auf der Roten Liste der gefährdeten Arten in NRW als „vom Aussterben bedroht“ beschrieben wird.
„Dabei ist der Fischotter eigentlich sehr anpassungsfähig“, erklärt Roy. Die Anforderungen, die er an seinen Lebensraum stellt – dicht bewachsene Ufer, ausreichend Fisch als Nahrung sowie chemisch unbelastete, am besten eher flache Gewässer mit potenziellen Überschwemmungszonen – erfüllt das Hase-Düte-System derzeit allerdings nur punktuell; der Einfluss der Agrarwirtschaft auf die Uferbereiche ist an vielen Stellen einfach zu groß. Dennoch hält Anja Roy es nicht für ausgeschlossen, dass der robuste Wassermarder sich langfristig wieder an der Hase niederlässt. Denn irgendwo müsse er ja schließlich bleiben…
Eine Transitstrecke für umtriebige Wassermarder?
Doch noch ist es nicht soweit. Der von einer aufmerksamen Beobachterin im vergangenen Februar an der Düte in Wersen fotografierte Otter dürfte inzwischen wohl längst in die Ems in Richtung Meppen abgewandert sein, wo eine Population ansässig ist, mutmaßt die Biologin, oder sich in Richtung Holland abgesetzt haben, wo Lutra lutra vor einigen Jahren erfolgreich wieder angesiedelt wurde. „Die Düte und die Hase wie auch die benachbarten Gräben und Bäche dienen dem Fischotter zurzeit wohl nur als Wasserstraße, als eine Art Transitstrecke, die die für ihn attraktiveren Gebiete im Westen und im Osten miteinander verbindet“, zieht die Biologin das Fazit aus ihren Beobachtungen.
Was das Vorkommen des Fischotters in der Gemeinde Lotte betrifft, also immerhin: ein Anfang. Nicht nur für den putzigen Wassermarder übrigens, denn als „Nahrungskettenendglied“ ist er „ein guter Indikator dafür, ob sein Lebensraum einigermaßen stabil ist“, erläutert Anja Roy. Mit anderen Worten: Dort, wo es der Fischotter langfristig aushält, dürfte auch eine Vielzahl anderer Arten zuhause sein.
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 17.06.2019)