Siebenmal im Jahr treffen sich sieben Frauen aus dem Tecklenburger Land, um sich über ihre Leseerfahrungen auszutauschen. Dieses Mal bin auch ich dabei, als es um dubiose Charaktere, grauenhafte Morde und die Frage „Ist Lesen überhaupt noch zeitgemäß?“ geht.
Zwischen einer entkorkten Flasche Rotwein und Schälchen voller Pralinen, Gummibärchen und salzigem Knabberzeug wachsen bizarr geformte Büchertürme aus der üppig bestellten Tischlandschaft empor. Darüber oszilliert die Atmosphäre angeregter Vertrautheit. „Ich lese mal ein Stückchen vor…“, eröffnet Beate den Abend und blättert in ihrer – sauber durchgearbeiteten und hier und da mit bunten Klebezettelchen versehenden – Lektüre. Wohlig seufzend lehne ich mich zurück. Wann hat man schon mal die Gelegenheit, Teil einer solch perfekten Symbiose aus Frauen, Geschichten, Kohlenhydraten und herbem Rebensaft zu sein?
Neuerscheinungen und Wiederentdecktes
Seit neun Jahren treffen sich Beate, Silke, Kerstin, Elke, Ute, Beatrix und Jutta, um zusammen über Neuerscheinungen und Wiederentdecktes, über Empfehlenswertes und Abzuratendes zu diskutieren. Verbindlichkeiten gibt es keine: „Jede von uns stellt die Bücher vor, die sie gerade interessant oder wichtig findet“, erklärt mir Elke. Lediglich einmal im Jahr verständigen sich die Damen auf eine gemeinsame Lektüre. „Das ist in der Regel genau das eine Mal, an dem ich etwas anderes lese als einen Krimi“, kommentiert Kerstin mit gespielter Leidensmine. Die Laggenbeckerin ist nach eigenen Worten als „absolute Nichtleserin“ unter die bekennenden Bücherwürmer geraten. „Ich dachte, ich höre einfach nur zu“, hatte sie den unwiderstehlichen Sog unterschätzt, den eine Geschichte entwickeln kann – vor allem, wenn sie spannend ist und die Freundinnen einem das Ende nicht verraten wollen…
Es geht ein Schnitt durch den Zirkel
Inzwischen verschlingt Kerstin Seite um Seite, Band um Band. Vorzugsweise Gedrucktes. Am liebsten so richtig schön grauslich. Ihre aktuellen Favoriten? „Abgeschlagen“ von Michael Tsokos, der Nachfolger von „Abgeschnitten“. Man lerne beim Lesen sehr viel über Forensik und den Entwicklungszyklus von Insekten. Ein diabolisches Lächeln legt sich auf ihr Gesicht, als sie den anderen das obligatorische Vorlese-Angebot unterbreitet. Dieses Mal hält sich die Begeisterung, gemeinsam in die Handlung einzutauchen, – zumindest bei einem Teil der Clique – in Grenzen: Was das blutige Verbrechen angeht, wird mir klar, zieht sich ein Schnitt durch den Lesezirkel.
Von Thriller bis Poesie
Während sich Silke (Lesetipp: „17 Erkenntnisse über Leander Blum“ von Irmgard Kramer) mit unverhohlener Vorfreude den Titel der Schauergeschichte in ihrem Lesetagebuch vormerkt und auch Beatrix (Lesetipp: „1793“ von Niklas Natt och Dag) reges Interesse an einem späteren Ausleihen des Thrillers signalisiert, streicht Jutta gedankenverloren über den dicken Wälzer, der auf ihrem Schoß ruht. Die 48-Jährige bevorzugt poetisch Erzähltes – und da sei „Nichts weniger als ein Wunder“ von Markus Zusak genau das Richtige. Zum Beweis liest sie uns einen Ausschnitt über das Miteinander der fünf von ihrem Vater verlassenen Brüder vor. Versonnen auf einem Weingummikrokodil kauend, lasse ich mich von der Qualität des Romans überzeugen.
Inspirationen direkt von der Buchmesse
Außer aus den eigenen Reihen holen sich die sieben Bücherfreundinnen ihre Lese-Inspirationen alljährlich und direkt vor Ort auf der Leipziger Buchmesse. „Dort finden während der Messe über die ganze Stadt verteilt Lesungen statt“, berichtet Elke (Lesetipp: „Der Typ ist da“ von Hanns-Josef Ortheil), „und man erlebt viele Autoren ganz unmittelbar.“ Auch Literaturverfilmungen lassen sich die Club-Mitglieder nur ungern entgehen. Zuletzt haben sie bei einer gemeinsamen Pyjamaparty – die einen bis tief in die Nacht, die anderen bis zum frühen Morgen – ihrer Leidenschaft gefrönt. „Lesen kann man immer und überall“, sagt Beate, „und wenn es nur fünf Minuten am Tag sind.“ – Und wer lese, pflichtet Kerstin ihr bei, der lerne fast immer etwas Interessantes dazu. Lesen sei nicht bloß unterhaltsam, ergänzen die anderen, sondern rege zudem sowohl zu eigenen Gedanken wie auch zu manch abendfüllendem Gespräch an.
Zur Lektüre gehört immer auch ein Heftchen Klebestreifen
Um diesen Tatbestand auf amüsante Weise zu untermauern, hält uns Beate zum Abschluss noch ein dünnes, rot eingebundenes Druckwerk entgegen: „Die souveräne Leserin“ von Alan Bennett erzählt davon, wie die britische Queen dank eines unerzogenen Corgis die Welt der Bücher für sich entdeckt. Schmunzelnd durchstöbert Beate die Seiten, bis sie zu der Stelle gelangt, die sie mit einem neonfarbenden Klebestreifen markiert hat: „Ich lese mal ein Stückchen vor…“, hebt sie den Vorhang in das noch unbekannte Abenteuer – und während ich mich ein letztes Mal behaglich in meinen Sessel kuschel, ahne ich bereits, wie sehr ich künftig diese Worte – und mehr noch: die auf sie folgenden (Wohl-)Taten – vermissen werde.
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 22.05.2019)