Vermutlich ist der Gedanke, unser Schulsystem müsse dringend reformiert werden, schon so alt wie die Institution Schule selbst. Ganz sicher ist allerdings: Er ist berechtigt.
Tatsächlich scheint der große Wurf einer für Schüler, Lehrer und Eltern gleichermaßen Sinn stiftenden, motivierenden und sozial gerechten Pädagogik bis heute vielerorts ausgeblieben zu sein. Allen Frustrierten, Erschöpften und Zynikern sei ein Besuch im Schulmuseum Mettingen empfohlen – verbunden mit der ernüchternden Erkenntnis: Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Die Zeiten, in denen es in den Klassenzimmern noch viel schlimmer zuging, sind gar nicht so lange her.
Während meine Klassenkameraden und ich uns in den 1970er Grundschuljahren mit der damals neu auf dem Curriculum aufgetauchten Mengenlehre auseinandersetzen mussten, mit der durch das emsige Herumschieben lustig bunter Plastikkreise, Drei- und Vierecke unser logisches Denken geometrisch geformt werden sollte, hat Fräulein Immerklug ganz andere Sorgen: „Ich lasse mir durch EIN reudiges Schaf nicht die ganze Herde verderben“, blickt die resolute Dorfschullehrerin mit unheilverkündender Strenge auf das nachlässig geplättete Taschentuch von Wilhelm, dem Sohn zwar fleißiger, aber nicht eben auf Ordnung und Sauberkeit bedachter Heuersleute. Sie zitiert den armen Sünder zu sich ans Pult, zückt den weidenhölzernen Züchtigungsstock – und leise wimmernd über die Bank gebeugt, das behoste Gesäß in die Höhe gestreckt, erhält der Knabe die pädagogische Antwort auf seine nicht geduldete Schludrigkeit: Patsch! Und zur Sicherheit gleich noch zweimal: Patsch! Patsch!
Körperliche Züchtigung als Erziehungsmethode? Nicht nur zu Kaisers Zeiten gang und gäbe. Die gute Nachricht für alle Reform-Freunde: In Nordrhein-Westfalen wurde im Juni 1971 die körperliche Züchtigung in Schulen für unzulässig erklärt, in den übrigen Bundesländern spätestens bis 1973. Nur in Bayern bestand bis 1983 ein Züchtigungsrecht. In der DDR waren Körperstrafen an Schulen bereits 1945 verboten worden. „Schläge sind gut für die Erziehung“, sagt Jutta Overmeyer und bringt ihre Perücke mit der adretten Flechtfrisur in Stellung. Regelmäßig schlüpft die Gästeführerin in die Rolle des kaisertreuen Fräuleins Immerklug und reist mit den Museumsbesuchern zurück in das Mettingen des Jahres 1906, damit das wissbegierige Publikum, das seinerseits mit verblüffender Schicksalsergebenheit als Schülerschaft fungiert, am eigenen Leibe erfahre, wie sich das anfühlt „auf Gedeih und Verderb einer Autorität unterstellt zu sein.“
Wenn Jutta Overmeyer vor ihrer Verwandlung durch die Sammlung des Hauses spaziert, den Gästen alte Botanisiertrommeln, Schulranzen und Gänsekiele in die Hände drückt und über die Sitten und Gebräuche in den – ausnahmslos nach Konfessionen getrennten – zehn ehemaligen Mettinger Bauerschafts- und fünf ehemaligen Ortskernschulen erzählt, merkt man schnell, wie viel Spaß es ihr bereitet, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Kritische Distanz wechselt dabei mit einem gerüttelt Maß an Humor. Aber wehe, wenn aus Jutta Overmeyer dann im zweiten Teil der Führung unvermeidbar das eiserne Fräulein Immerklug wird…
Dann haben wir Schüler nichts mehr zu lachen. Und außer Nadelarbeit für die Mädchen, die künftig ihre Rolle als treusorgende Hausfrau und Mutter zu erfüllen und sich den Vorstellungen ihrer Ehemänner zu unterwerfen haben – und Leibesertüchtigung für die Knaben, denen als stramme Soldaten der Militärdienst winkt, stehen Vaterlandsliebe und Gottesfurcht im Zentrum des Unterrichts. Geredet werden darf nur nach Aufforderung, ausschließlich im Stehen und natürlich nur in ganzen Sätzen, die mit einem höflichen „Fräulein Immerklug“ zu beenden sind. Wer sich nicht daran hält, seine Hausaufgaben nicht ordentlich erledigt, seine Hände nicht gewaschen, die Fingernägel nicht geschnitten, die Haare nicht zum keuschen Zopf gebunden oder sonst eine Verfehlung begangen hat, zahlt je nach Ermessen unserer Lehrerin entweder ein Strafgeld (20 Pfennig für das erste, 90 Pfennig für das zweite Versäumnis), wird in die Ecke geschickt – „Senke den Blick und bete mit Inbrunst das Vater unser“, bekommt zur allgemeinen Schadenfreude die „Ich bin ein Esel“-Krone aufgesetzt oder hat „schmerzhafte Konsequenzen“ zu erwarten.
Wir marschieren „zackig wie im Stechschritt“ durch das Ein-mal-Fünf, krakeln in zierlichen Schwüngen reihenweise das kleine i mit dem Griffel auf unsere Schiefertafeln; Auguste und Josefa verdienen sich durch ihre widerspruchslose Pflichterfüllung und ihren vorbildlichen Gehorsam jede eines der begehrten Fleißkärtchen, von denen sie dann später zehn Stück gegen ein Heiligenbild eintauschen dürfen. Wilhelm hat in Sachen Heimatkunde nun komplett die Orientierung verloren und gerät so neuerlich strauchelnd ins Visier der Kaiserzeit-Pädagogin. „Das habe ich leider vergessen, Fräulein Nimmerklug…äh, Immergut…“, stammelt er verängstigt. Das Fräulein atmet scharf ein, hebt den Stock, um dann aber doch nur resigniert den Kopf zu schütteln: „Dummheit kann man nicht mit Schlägen austreiben“, befindet sie und belässt es bei drei in der Ecke zu betenden Rosenkränzen. Bauerstochter Klementine geht anschließend sogar komplett straffrei aus einer besonders heiklen Unterrichtssituation heraus, als sie unserer Lehrerin die Antwort nach dem korrekten Titel des Kaisers schuldig bleibt: „Das ist nicht schlimm, dass du das nicht weißt, mein Kind“, lässt Fräulein Immerklug unerwartete Milde walten, „du erbst ja den Hof.“
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 07.05.2019)