Heckenrose oder Hundebiss? Mittrotten oder aus der Reihe tanzen? Ein Leben als Herdenschaf birgt manch gewichtige Frage. Um herauszufinden, wie sich ein artgerechter Nutztieralltag zwischen autoritärem Hütegebell und ewig lockender Vorgartenvegetation gestaltet, statten wir Jürgen Schienke, Wanderschäfer bei der Arbeitsgemeinschaft für Naturschutz Tecklenburger Land (ANTL), und seinen derzeit mehr als 500 Bentheimer Landschafen einen Besuch ab.
Die Landwirtschaft brummt. Es wird gemäht und gedroschen, gehäckselt und siliert. Über den Feldern vibriert der Klang von PS-unterfütterter Effizienz. Fast das ganze Jahr über. Direkt vom Halm ins Maul gerupft und mit wiederkäuendem Gleichmut unter freiem Himmel gemümmelt, wird in der Welt der Nutztiere kaum noch etwas. Wie denn auch? Extensiv bewirtschaftete Weiden, von wilder Vielfalt strotzende Randstreifen oder nicht sauber bis zur Flächengrenze abgeerntete Parzellen rechnen sich im Agrarbusiness nicht – und haben in der hiesigen Kulturlandschaft kaum noch eine Chance. Kein Wunder also, dass der imposante Anblick einer umherziehenden Schafherde mittlerweile Seltenheitswert besitzt. Die ANTL unterhält mit gut 500 Tieren eine der letzten größeren Herden in der Region.
Herdentiere und Individualisten
Ein sonniger Spätsommertag. Das Echo der Kirchenglocken – zwölf melodische Schläge – liegt noch träge über dem Brochterbecker Dorfteich, als ein schriller Pfiff die Idylle zerreißt – und Schäfermeister Jürgen Schienke mit forschen Schritten um die Ecke biegt: „Aufgepasst, bleibt alle diszipliniert zusammen und haltet die Marschrichtung ein“, heißt sein Kommando in Schafsprache übersetzt, „sonst kommt der Hund und zwickt euch in die Hacken!“ Auf rund 2000 Hufen trippelt die wollige Kolonne denn auch brav in mehr oder weniger geschlossener Formation über das Pflaster des Ortskerns. Dem strengen Chef immer ganz dicht auf den Fersen. Eine Handvoll vierbeinige Individualisten riskiert zwar schnell noch einen kecken Ausflug durch die kommunalen Rabatten – aber da schickt Schienke auch schon Kauri, einen seiner zottigen Altdeutschen Hütehunde, los. Also, eilig ein saftiges Büschel Löwenzahn stibitzt – und nichts wie abgetaucht in die schützende Menge.
Resteverwerter ohne Reste …
„Historisch gesehen ist die Schäferei eine Resteverwertung“, sagt Jürgen Schienke: Zwischen der klassischen Landwirtschaft und der klassischen Schäferei habe immer eine Art Symbiose geherrscht, erklärt der gelernte Tierwirtschaftsmeister, Schwerpunkt Schafhaltung. Aber das einstmals herrschende Gleichgewicht sei durch die Intensivierung der Landwirtschaft mehr und mehr verrutscht: „Der einzige Grund, warum es uns noch gibt, ist der Naturschutz“, sagt der 48-Jährige und wirft seinen vorwitzigen Schützlingen einen strengen Blick über die Schulter zu. Der Pfiff bleibt diesmal aus. „Die größte Konkurrenz der Wanderschäferei“, fährt er fort, „sind heute die Biogasanlagen, die sich alles Pflanzenmaterial, das übrigbleibt, einverleiben.“
Mampfen für den Naturschutz
Als Wanderschäfer aus Überzeugung und einer der wenigen Übriggebliebenen eines in seiner Existenz bedrohten Handwerks, hat es der Familienvater allerdings vergleichsweise gut getroffen: Seit 2001 betreut er als Angestellter der ANTL die vereinseigene Herde aus Bentheimer Landschafen – einer als bedroht eingestuften Haustierrasse. „Die Herde hält vor allem die Streuobstwiesen der ANTL kurz“, erklärt er: Und schafft dadurch Lebensräume für Schleiereule und Steinkauz – ebenfalls bedrohte Arten, denen die konventionelle Landwirtschaft zu schaffen macht. Weil die meisten dieser Flächen eher klein und daher schnell kahl gefressen sind, gehört das Umherziehen zu Schienkes Alltagsgeschäft – lediglich zur Lammzeit von Mitte Februar bis Ende März wird die Herde vorübergehend eingestallt.
Unterwegs im Auftrag der ANTL
Gerade ist er mit seinen Tieren unterwegs zu einer privaten Grünfläche: „Der Eigentümer möchte gern eine ökologische Bewirtschaftung seiner Wiese und keine Maiswüste“, erläutert Schienke und lässt Kauri neuerlich längsseits preschen, um für Ordnung in der Gesellschaft der stets naschhaften Paarhufer zu sorgen. Gesittet überquert die Gruppe kurz darauf eine Hauptstraße, die Autofahrer halten an und grüßen freundlich. „Wenn die Tiere ordentlich mitlaufen und alles ganz leicht aussieht, dann hat der Schäfer einen guten Job gemacht“, sagt der gebürtige Siegerländer. Solide ausgebildete Hütehunde und eine detaillierte Kenntnis der Herdendynamik sind das A und O seines Handwerks. „Das alles ist das Ergebnis harter Arbeit und langen Trainings.“ Was aber, wenn dann doch einmal – weil die Tiere durstig werden oder ein fremder Hund kläffend aus einem Vorgarten schießt – das Chaos ausbricht? Der ANTL-Schäfer wiegt den Kopf und denkt kurz nach: „Wenn meine Hunde das alleine nicht mehr schaffen“, sagt er, „dann belle ich eben mit.“
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 02.09.2015)