Ein breites Becken? Wohlgeformte Beine? Schönheit ist Ansichtssache, für Funktionalität jedoch gibt es klar definierte Kriterien. Beim Rinderbeurteilungstraining lernen Jungzüchter mehr als 20 Merkmale ihrer vierbeinigen Klientel fachgerecht einzustufen.
Die Luft riecht süßlich nach frischem Kuhmist. In den Ställen rascheln die Bewohner im Stroh. Fressen. Liegen. Käuen wieder. Aus dem Hintergrund hört man das leise Surren einer Schermaschine. Im Verkaufsstall der Osnabrücker Herdbuch-Genossenschaft (OHG) in Melle-Warringhof herrscht regsame Geschäftigkeit. Zumindest unter den zweibeinigen Mitarbeitern des Verbandes. Die Vierbeiner geben sich betont lässig. Schlagen gelangweilt mit ihren Schwänzen, wackeln mit den Ohren und harren bedächtig der Gestalten, die da kommen werden, um die Geheimnisse einer milchleistungsförderlichen Anatomie zu ergründen.
Gleichmal vorweg: „Alle Rinder, die Sie hier sehen, sind gut gebaut. Sehr gut sogar. Manche geradezu exzellent.“ Friedrich Rottmann lässt seine Hand über das aalglatte Fell von Wolke Sieben streichen, tätschelt der schmucken Schwarzbunten den Nacken und lächelt zufrieden. Als Zuchtberater und zertifizierter Kuheinstufer der OHG macht er aus seiner Begeisterung für die schlaksigen Milchlieferanten und ihre international gefragten Qualitäten keinen Hehl. Schließlich weiß er, dass sämtliche Tiere, die sich an diesem Nachmittag hier tummeln, das Ergebnis einer über Jahrzehnte konsequent verfolgten Zuchtstrategie und akribischer Auslese sind. Nicht von ungefähr gilt die OHG als „eine der führenden Rinderzuchtorganisationen in Europa“, wie sie auf ihrer Internetseite vermeldet.
Rottmanns Aufgabe besteht unter anderem darin, die durch das Zuchtprogramm der OHG und die Zuchtziele des Bundesverbandes Rind und Schwein festgelegten Merkmale für eine mustergültige Vertreterin der Rasse „Deutsche Holsteins“ am real existierenden Euterträger zu begutachten und jedem Tier einen Zuchtwert für sein äußeres Erscheinungsbild, eine sogenannte Exterieurnote, zu verpassen. Diese und später auch noch weitere Zuchtwerte – wie Milchleistung, Melkbarkeit, Temperament oder „funktionale Nutzungsdauer“ – fließen dann in den Datenpool der OHG und dienen dazu, die Zuchtplanungen weiter zu optimieren und der Reproduktion der perfekten Milchkuh vonseiten der OHG eine komfortable Konstanz zu verleihen. Weil Rottmann außerdem auch noch für die Betreuung der Jungzüchter zuständig ist, gibt er sein Wissen darüber, was ein Herdbuch-Rind nicht nur hübsch macht, sondern ihm vor allen Dingen auch zu ökonomischer Attraktivität verhilft, an angehende Landwirte weiter.
Eine davon ist Sophie Altevogt aus Natrup-Hagen. Die gelernte Landwirtin ist im Vorstand der Jungzüchter aktiv und studiert zurzeit Landwirtschaft an der Hochschule Osnabrück. Im vergangenen Sommer hat die 21-Jährige zusammen mit einigen ihrer Kollegen an der Europäischen Jungzüchterschulung teilgenommen. Im belgischen Battice hat das ambitionierte OHG-Team nicht nur jede Menge Erfahrungen gesammelt, sondern auch beachtliche Erfolge bei den dort ausgetragenen Wettbewerben eingeheimst: Während Oliver Krüger aus Hilter unter den rund 150 Teilnehmern aus 15 Nationen den Gesamtsieg einfuhr und sich Ulrike Schulze (Vennermoor) den Gesamt-Reservesieg sicherte, entschied Sophie Altevogt eine der Vorführklassen für sich. Carina Nölking (Rödinghausen) wurde als beste Richterin ausgezeichnet.
Zusammen mit einem runden Dutzend Newcomern scharen sich die alten Hasen jetzt um Friedrich Rottmann und werfen einen ersten Blick auf die vier Rinder, die an einem Gatter in der Vorhalle angebunden sind. Der eine oder andere Jungbauer geht schon mal in die Knie, kneift kritisch die Augen zusammen oder bildet mit den Fingern ein Dreieck, durch das er zur besseren Einschätzung der Beckenknochenkonstellation äugt. Hier und da setzen leise Diskussionen ein. Sophie Altevogt schlendert mit konzentrierter Aufmerksamkeit um Marlie, Edel, Biotika und Wolke Sieben herum. „Von diesen vier Rindern könnte ich jedes gut im Stall gebrauchen“, seufzt sie und beginnt zu schwärmen: „Fest aufgehängtes Vordereuter, wunderschöne Harmonie in der Oberlinie, tadelloses Fundament, optimale Neigung des Beckens.“ So, so… unter Rinderfachleuten scheinen diese Formulierungen als exquisite Komplimente zu gelten. Unter den Rindern selbst womöglich auch. Aber was kann der Laie aus derlei Beschreibungen an Erkenntnis gewinnen…?
Dorothee Warder vom Bundesverband Rind und Schwein, dort verantwortlich für die Aus- und Weiterbildung von Klassifizierern, erläutert, was es mit solch klangvollen Merkmalen wie „Hintereuterhöhe“, „Strichplatzierung“ oder „Rippenausprägung“, ihrer akkuraten Beschreibung und nachvollziehbaren Bewertung auf sich hat. „Die Landwirte wünschen sich heute möglichst fitte Kühe, die lange durchhalten und viel Milch geben“, sagt sie. Neben den Haltungsbedingungen sind es vor allem die ererbten Eigenschaften, die aus einem hübschen Rindvieh eine „wirtschaftliche Leistungskuh in milchbetontem Typ“ machen, „die durch stabile Gesundheit, Robustheit und gute Fruchtbarkeit viele Laktationen“ – so nennt man die Phasen, in denen die Kuh nach der Geburt eines Kalbes Milch produziert – „nutzbar ist“, heißt es im Zuchtprogramm der OHG. Und der Deutsche Holstein Verband ergänzt: „Verlangt wird außerdem ein gesundes und gut melkbares Euter, das (…) die Ansprüche moderner Melksysteme erfüllt.“
Kurzum: Ein „gut aufgehängtes Vordereuter“ – soll heißen, dass das Euter in einem möglichst flachen Winkel in die Bauchdecke der Kuh übergeht und somit auch dann noch stabil und in Form bleibt, wenn es prall mit Milch gefüllt ist – mit nicht zu kurzen, aber eben auch nicht zu langen Zitzen, die gleichmäßig geformt sind und in ausreichendem Abstand zueinander stehen, erleichtert beispielsweise dem Landwirt oder dem Melkroboter schlichtweg die Arbeit und sorgt für mehr Effizienz in den täglichen Routinen.
Inzwischen haben Dorothee Warder und Friedrich Rottmann die offiziellen Beurteilungsbögen vom Deutschen Holstein Verband verteilt – und die Jungzüchter nehmen Marlie, Edel, Biotika und Wolke Sieben genauestens unter die Lupe. Für jedes Rind steht den Kursteilnehmern eine Viertelstunde Bedenkzeit zur Verfügung. Einzeln oder in kleinen Grüppchen machen sie sich ans Werk. Nicole Reinsch betrachtet ausgiebig das sanft gewölbte Tal, das sich zwischen Beckenknochen, Sitzbeinhöcker und sogenanntem „Umdreher“ von Edel bildet. Ein Lächeln huscht über das Gesicht der ausgelernten Landwirtin. „Sie ist in einem sehr guten körperlichen Gesamtzustand“, sagt die Mellerin und vergibt respektable fünf Punkte in der Kategorie „Body Condition Score“.
Eine Kuh weiter legt Sophie Altevogt behutsam ihr Klemmbrett horizontal auf die herausstehenden Lendenwirbel von Biotika, denkt kurz nach – und notiert das Ergebnis dann entschlossen auf dem Beurteilungsbogen. Anschließend fährt sie vorsichtig mit zwei Fingern zwischen Biotikas Rippenbögen entlang, bevor sie aufmerksam den Winkel der Klauen taxiert. „Ein gutes Fundament ist extrem wichtig“, deutet sie auf die feingliedrigen Sprunggelenke und die ideal gewinkelten Hinterbeine, „damit sich die Kühe gut bewegen können und entsprechend viel Futter aufnehmen.“
„Strichlänge passt“, raunt Timo Barrenpohl derweil seinem Kumpel Paul Schulte zu. Die beiden Azubis hocken hinter Marlie, legen die Köpfe schief und nicken bedächtig. „Ja…“, bestätigt Schulte, „so zwischen vier und sechs.“ Mit anderen Worten – dichter am Optimalwert fünf geht es kaum. Auch das Heck der Schwarzbunten, die die Kommentare der beiden 17-Jährigen stoisch über sich ergehen lässt, scheint genau richtig geformt zu sein und wird von Schulte und Barrenpohl mit der Bestnote bedacht. „Das Becken sollte nach hinten leicht abfallen“, erläutert Dorothee Warder, „damit es sich nach der Geburt des Kalbes jedesmal gut reinigt.“
Damit die Jungzüchter ihre Ergebnisse vorstellen und ihre Einschätzungen untereinander beratschlagen können, gesellen sich zum Abschluss des Trainings noch zwei weitere Rinder – Elena und Ella – dazu. „Eine Richtklasse besteht in der Regel aus sechs Tieren“, erklärt Friedrich Rottmann und fordert den Nachwuchs zum Richten und Rangieren der Gruppe auf. Dazu stellen die Vorführer die Tiere in der Reihenfolge ihrer Beurteilung auf. Bei der Präsentation legt Rottmann Wert darauf, dass die positiven Eigenschaften jeder Kuh in den Mittelpunkt gerückt werden. „Das Rind auf dem ersten Platz ragt als klare Spitze heraus, weil es in nahezu allen Merkmalen der kompletteste Typ ist.“ Auch danach soll der Fokus auf das Erfreuliche gelegt werden: „Die Zwei läuft vor der Drei, weil sie durch ihr festes, drüsiges Euter zu überzeugen weiß.“ Und besonders für die Letztplatzierte hält ein guter Kritiker stets noch ein lobendes Wort bereit: „Die Sechs rundet diese Gruppe mit viel Stil und Körpertiefe ab.“
Was auffällt: Jeder Jungzüchter setzt bei seiner Einstufung zwar individuelle Schwerpunkte, sodass die Rinder wieder und wieder ihre Positionen tauschen – die Nummer Eins allerdings verbleibt unangefochten auf der Poleposition. „Wir haben hier, was die äußeren Erscheinungsmerkmale angeht, eine sehr hochklassige und ausgewogene Gruppe“, ist Rottmann mit der Bewertung durch seine Schüler zufrieden. „Vor allem die Begründungen für die jeweilige Einschätzung sind entscheidend“, setzt er auf Transparenz und Nachvollziehbarkeit. Während die Jungzüchter noch angeregt über ihre Bewertungen diskutieren, werden Edel und Marlie, Ella und Elena, Biotika und Wolke Sieben zurück in ihre Stallungen geführt. Ob sie den Zweibeinern nun gefallen haben oder nicht, scheint sie nicht sonderlich zu beschäftigen. Was wirklich zählt, signalisieren ihre Blicke: Hauptsache das Stroh ist frisch und der Trog ist voll!
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 09.02.2019)