Der Fall ging im Herbst vergangenen Jahres durch die Medien: Ihre Besitzer hatten Mischlingshündin Charlotte im Wald ausgesetzt, um ohne sie in Urlaub zu fahren. An einer viel zu kurzen Leine war der Vierbeiner an einem dicken Baum festgebunden, so dass er sich nicht einmal hinlegen konnte. Sobald sich das Tier bewegte, zog sich das Kettenhalsband immer strammer um seinen Hals und drohte es zu strangulieren. Einen halben Tag lang harrte die völlig verängstigte Charlotte in dem abgelegenen Waldstück aus, bevor sie durch Zufall von zwei Handwerkern entdeckt wurde, die daraufhin sofort die Feuerwehr alarmierten. Charlotte kam ins Tierheim.
Wie ist es der Hündin seitdem ergangen? Hat sich der damals etwa zwölf Monate alte Vierbeiner inzwischen von dem grausamen Erlebnis erholt? „So ganz angekommen bei uns ist sie immer noch nicht“, sagt Charlottes neues Herrchen Ingo, „aber wir sind auf einem guten Weg – sie wird von Tag zu Tag gelassener.“ Als der Lotteraner damals Charlottes Bild gesehen und von ihrem Schicksal gelesen hatte, sei er spontan zum Tierheim nach Hellern gefahren. „Wir wollten sowieso wieder einen Hund haben – und zwar einen richtig schönen großen“, erzählt der 48-Jährige, „und da habe ich gedacht: vielleicht passt das ja …“
Aus der vagen Hoffnung ist mittlerweile eine solide Gewissheit geworden. Und das nicht nur wegen des Anklangs im Namen, wie Frauchen Katja schmunzelnd bemerkt: „Charlotte aus Lotte – das muss wohl so sein.“ Nein, auch die Wellenlänge zwischen den zwei- und vierbeinigen Rudelmitgliedern stimmt. „Bevor das Tierheim sie am 22. Dezember freigegeben hat, haben wir sie so oft es ging besucht und immer wieder genau beobachtet“, beschreibt Ingo den Beginn einer – wie es sich wohl herauskristallisiert – wunderbaren Freundschaft. „Die ersten Male habe ich nur vor ihrem Käfig gestanden, und sie hat sich ziemlich giftig verhalten.“ Doch irgendwie habe man bereits da geahnt, dass hinter dem nur allzu verständlichen Misstrauen der Mischlingshündin aus Schäferhund und Dogge ein sanftes Wesen stecke.
„Die ersten Tage, als sie dann bei uns war, waren allerdings wirklich anstrengend“, erinnert sich das Paar. Charlotte sei extrem unruhig gewesen. „Ist ja klar“, hat Ingo volles Verständnis: „Ein unbekannter Ort, noch keine feste Bindung zu uns – sie muss riesige Angst gehabt haben, dass wir sie bei der erstbesten Gelegenheit wieder verlassen würden.“ Aber irgendwann hat Charlotte dann doch gemerkt, dass sie mit Ingo, Katja und ihrer 19-jährigen Tochter Tia das große Los gezogen hat. Mit regelmäßigen Spaziergängen – zwei Stunden am Morgen vor der Arbeit, eine Stunde am Mittag und wiederum zwei Stunden nach Feierabend, dem gewissenhaften Besuch einer Hundeschule und jeder Menge Streicheleinheiten hat ihr Alltag eine verlässliche Struktur angenommen.
Und ihr Vertrauen wächst täglich. Wenn ihr Herrchen oder ihr Frauchen jetzt aus dem Zimmer gehen, springt die Hündin nicht mehr panisch auf, um ihnen zu folgen, sondern bleibt immer häufiger in ihrem Korb im Wohnzimmer liegen. Wie würden ihre neuen Besitzer Charlotte beschreiben? „Sehr neugierig, sehr gelehrig und sehr sportlich“, sagt Ingo. „Gutmütig und spielfreudig“, ergänzt Katja, streicht ihrem Vierbeiner über das seidig weiche Fell und fügt schmunzelnd hinzu: „Und weil unsere Lotti so verfressen nach Leckerlis ist, lässt sie sich auch wunderbar leicht erziehen.“
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 22.03.2016)