Wie entsteht Weihnachtstimmung? Den Glühwein in der einen, die Grillwurst in der anderen Hand, bin ich beim offenen Singen der Seester Chöre der Weihnachtsformel auf der Spur. Licht, Schall, Wärme – im Grunde ist fast alles eine Frage der Physik.
Inspiriert durch ihren musikalischen Leiter Dieter Hoge, richten der Frauenchor und der Männergesangverein Seeste bereits im fünften Jahr ein offenes Singen aus. Nicht nur die Mitglieder, auch erstaunlich viele Gäste aus den anderen Bauernschaften und dem Ortskern sind zusammen gekommen, um sich in weihnachtliche Stimmung zu versetzen. Irgendetwas müssen die Seester richtig machen – aber was?
Den Ortsfaktor nicht unterschätzen: Ochs und Esel sucht man zwischen den Sängern zwar vergebens, aber die Kühe stehen gleich nebenan im Stall. Die leergeräumte Scheune auf dem Hof von Birgit und Hajo Leyschulte mit ihren dekorativen Strohgarben an den Wänden und dem derbem Gebälk bietet eine fast schon biblische Kulisse für das offene Weihnachtssingen. Noch ein paar Schafe dazu – und die lebendige Krippe wäre perfekt. Als die Tradition entstanden sei, habe man sich zunächst im Seester Schützenhaus getroffen, erzählt eine Sängerin, dreht sich um die eigene Achse und deutet anerkennend auf das gewaltige Volumen des rustikalen Chorraumes: „Aber hier ist es natürlich viel schöner!“
Ohne Licht keine Stimmung: „Alter Schwede…!“, entfährt es einem staunenden Knirps, als er die Scheune betritt und die unzähligen Lichtpunkte, die an den verputzten Wänden und hoch bis in den Dachfirst in Rot und Blau, Grün und Gold leuchten, entdeckt. Hinter dem funkelnden Firmament stecken mehrere Party-Lichtanlagen. „Die hat der eine oder andere von uns privat mitgebracht“, berichtet Chorleiter Hoge nicht ohne Stolz. Soll keiner denken, ländliche Sangesgemeinschaften verfügten nicht über modernes Equipment. Beim Ausatmen in der unbeheizten Scheune verwandelt sich jeder Sänger überdies in eine kleine, menschliche Nebelmaschine – und für einen Augenblick werden die bunten Lichtstrahlen vor der eigenen Nase sichtbar. „Alter Schwede…!“
Wie Wärme entsteht: Ein Heizpilz allein macht noch keinen Sommer. Wenn die Finger trotz Wärmestrahler und Feuerschale blau gefroren sind und man die Füße ungeachtet von Wollsocken und langen Unterhosen nicht mehr spürt, ist eine Tasse heißer Kakao, Tee oder Glühwein genau das Richtige. Das wissen die erfahrenen Gastgeber und schenken reichlich aus. Interessanter Nebeneffekt: Gemeinsames Bibbern erzeugt menschliche Wärme – und bei einem Blick über den Becherrand kommt man schnell mit seinem Nachbarn ins Gespräch.
Weihnachtlicher Schall im Stall: Für die musikalische Auswahl des Programms zeichnet Chorleiter Dieter Hoge verantwortlich. „Mir liegt besonders am Herzen, dass die traditionellen Weihnachtslieder nicht in Vergessenheit geraten“, sagt er, macht sein Akkordeon startklar und eröffnet das Singen mit „Alle Jahre wieder“. Es folgen überwiegend kirchliche Weihnachtslieder, aber auch humoristisch Umgedichtetes, wie zur Melodie von „Marmor, Stein und Eisen bricht“, beherrschen die Seester. Per Beamer werden die Texte der einzelnen Strophen an den Giebel projiziert – so hat jeder, egal ob in der ersten Reihe stehend oder an der hintersten Bierzeltgarnitur sitzend, gute Sicht. In lockerer Folge gesellen sich im Laufe des Abends immer wieder ein paar Flötenspielerinnen zu Hoge. Vieles läuft hier spontan ab, weniges ist einstudiert. Vielleicht ist gerade deshalb die Atmosphäre so locker und familiär.
Wirkungsgrad des Seester Konzepts: Wer sich im Schein der Party-Sterne und LED-Kerzen umsieht, blickt in lauter sangesfreudige Kehlen und zufriedene Gesichter. „Man kann hier so herrlich runterkommen“, schwärmt eine Besucherin, „und den ganzen Stress vergessen.“ Sollte am Ende just diese aufgestaute Anspannung eine entscheidende Variable in der Weihnachtsformel sein – und ihre vielstimmige Überwindung geradewegs in die finale Festtagsharmonie führen? Während alle Sänger in vereinter Inbrunst „Oh du fröhliche“ anstimmen, beschließe ich die Suche nach der ultimativen Weihnachtsformel zu beenden. Schließlich haben die Seester sie ja längst gefunden.
(Erschienen in: Neue Osnarücker Zeitung, 27.12.2018)