Klar, Alkohol ist verpönt als Mittel zur Stressbewältigung. Beim trendigen Bieryoga ist die Flasche Gerstensaft neben der Matte allerdings erwünscht. Fällt es leichter sich zu entspannen, wenn man angedudelt ist? Ich mache den Test.
Statt einem tief aus der Seele heraus gebrummten „Ooooommmmm“ entlockt Kerstin Wagner-Schaberth uns, die wir bei schummrigem Kerzenlicht im Gymnastiksaal des Alt-Lotteraner Fitness-Studios i-Sport nach innerer Harmonie dürsten, ein kräftiges „Proooooost“. Doch noch stehen die Bierflaschen mehr als eine Armeslänge und somit für untrainierte Körper unerreichbar entfernt. „Seid ganz in euch gekehrt, der Rücken ist gerade, die Schultern hängen.“ Um eine angemessene Andacht für den Aufbruch in eine neue Dimension des Chillens bemüht, verharren wir im Kreuzsitz und atmen tief ein und aus. Beim zweiten Mal klingt das „Proooooost!“ schon etwas fordernder.
Wenn sie nicht gerade experimentierfreudigen Zeitgenossen das Mantra des achtsamen Alkoholkonsums nahebringt, unterrichtet die ausgebildete Yoga-Lehrerin ihre Schüler in grundsolidem Hatha-Yoga. Am Bieryoga, das vor knapp fünf Jahren aus den USA nach Deutschland herüber geschwappt ist und längst auch das Tecklenburger Land erreicht hat, schätzt die Osnabrückerin vor allem die lockere Stimmung, die sich erfahrungsgemäß in der Gruppe ausbreitet. „Die Leute sind sehr aufgeschlossen und es wird viel gelacht“, stellt Wagner-Schaberth in ihren Kursen immer wieder fest, „und für viele ist Bieryoga nicht nur der erste Kontakt zum Yoga, sondern auch der perfekte Einstieg.“
Überraschend hoher Männeranteil
Was mir auffällt: Fast ein Drittel der Teilnehmer sind Männer, sowohl jüngeren als auch älteren Semesters. Und obschon mir nicht entgeht, wie sie zwischen Klangschale und Räucherstäbchen noch ein wenig fremdeln und einander verstohlen zugrinsen, scheinen sie doch einen gewissen Ehrgeiz mitgebracht zu haben. Wohlwissend, dass die flüssige Belohnung für ihren Mut sich dem Unbekannten zu stellen, die Überwindung allemal wert sein dürfte.
„In der Vorwärtsbeuge ergreift ihr nun die Flasche mit beiden Händen – und nehmt einen kleinen Schluck“, erlöst uns unsere Yoga-Lehrerin aus der aufrechten Sitzhaltung. Hörbar aufatmend langen wir beherzt zu: „Proooooost!“ Eine wichtige Lektion: Ein Schluck Bier ist im Bieryoga nicht bloß ein Schluck Bier, sondern eine komplette Entspannungsübung: Statt mit einem reflexartigen Rülpsen wird er obligatorisch mit einem langgedehnten „Aaaaaaaah“ quittiert, welches unwillkürlich in ganz und gar hemmungsloses, kollektiv hervorsprudelndes Gelächter mündet.
Bedingungslose Bereitschaft loszulachen
Auch Kerstin Wagner-Schaberth schmunzelt belustigt, wie sich beim Bieryoga mal wieder ernsthaftes Körpertraining und fröhliche Ausgelassenheit vermischen. Gar keine Frage – wir sind auf den Geschmack gekommen. Auf den der Gesamtkomposition, versteht sich, die aus – auch für den Anfänger – leicht zu bewältigenden Übungen besteht, aus dem bewussten Nippen am belebenden Kaltgetränk, jeder Menge Humor und der bedingungslosen Bereitschaft, lauthals loszulachen. Über was?
Vielleicht einfach bloß über die unerwartete Leichtigkeit des Augenblicks. Über das, was der Alltag in Alt-Lotte an überraschenden Erfahrungen bereithält. Vor allem aber über uns selbst und manchen eher ungeschickten Versuch, den eigenen Körper in die Position der kleinen Kobra, des herabschauenden Hundes, des Helden oder des Kamels zu bringen. Mal dient die Bierflasche dabei als Gegengewicht, mal als Fokus für einen konzentrierten Blick – und mal als Sehnsuchtsobjekt, das zum Durchhalten anspornt. „Die meisten Übungen, die wir heute Abend machen, fördern die Balance“, erklärt uns unsere Trainerin, „und sollen euch ein Gefühl der Ausgeglichenheit und der Harmonie vermitteln.“
Flasche leer, Seele baumelt
Nach einer guten Stunde sind die Flaschen leer, die Körper wohlig erwärmt und unsere Seelen baumeln in heiterer Gelassenheit. Welche der Zutaten des Bieryogas diesen paradiesischen Zustand maßgeblich bewirkt haben? Nun, die Prozente im Gerstensaft waren es bei mir wohl nicht, denn mein Bier war, wie das einiger anderer Kursteilnehmer – alkoholfrei.
(erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 12.12.2018)