Meine Mutter, einst eine wanderfreudige Naturliebhaberin, ist seit einiger Zeit auf einen Rollator angewiesen und unfreiwillig häuslich geworden. Als sie von der barrierefreien Führung durch das Recker Moor erfährt, schickt sie ihren Rolli und mich zum Testen auf die Strecke.
Um auch Personen, die nicht mehr gut zu Fuß, mit Gehhilfen oder im Rollstuhl unterwegs sind, das Erleben der über Jahrtausende gewachsenen Moorlandschaft zu ermöglichen, hat die Gemeinde Recke in Kooperation mit der Biologischen Station des Kreises Steinfurt erstmals eine rollatorgerechte Wanderung durch das Natur- und Vogelschutzgebiet organisiert. „Das ist auch für uns eine ganz neue Erfahrung“, sagt Thomas Starkmann von der Biologischen Station, der zusammen mit seinem Kollegen Robert Tüllinghoff das Konzept für die Tour entwickelt hat. Die Herausforderung: Wie bringt man Menschen das Moor nahe, die dem Moor aufgrund ihrer körperlichen Einschränkung nicht nahe kommen können? Die Lösung: Solide Vorbereitung und ein gut gefüllter Rucksack voller Anschauungsmaterial.
Ein zusätzlicher Pluspunkt: Selbst das Wetter spielt der regionaltouristischen Premiere in die Karten. Der Regen der vergangenen Tage ist längst versickert und die monatelange Trockenheit hat den sandigen Boden nachhaltig ausgehärtet. Während die geübten Rollatorbenutzer ihre Vehikel souverän auf dem holperigen Naturgeläuf vor der Infotafel gleich gegenüber dem Parkplatz in Stellung bringen, tue ich mich mit dessen Handhabung zunächst etwas schwer. Doch es dauert gar nicht lange, da entdecke auch ich die ersten Vorzüge von Mutterns vierräderigem Begleiter: In dem kleinen Gitterkörbchen findet ein Rucksack inklusive Getränk und Proviant seinen Platz, auf dem klappbaren Sitzpolster meine Kameraausrüstung und das Schreibzeug.
Projekt „Wegbar – Natur für alle“
Mit dem von der EU initiierten Projekt „Wegbar – Natur für alle“ will sich das Münsterland – und mit ihm auch die Biologische Station des Kreises Steinfurt – als Ziel für barrierefreien Naturtourismus stärker in Szene zu setzen. „Was gar nicht so leicht ist“, bemerkt Thomas Starkmann: „Die meisten Naturschutzgebiete sind nämlich genau wie das Recker Moor mit öffentlichen Verkehrsmitteln äußerst schlecht bis gar nicht zu erreichen.“ Auch sanitäre Einrichtungen fehlen meistens, erst recht solche, die auch für Personen mit eingeschränkter Mobilität zugänglich wären. „Aber wir tun, was wir können“, verweist der Diplom-Geograf auf die – zumindest rudimentär – bereits vorhandenen Strukturen: befestigte Parkplätze, gut zugängliche und auch aus dem Rollstuhl problemlos einsehbare Hinweistafeln sowie ein einigermaßen solide begeh- und berollbarer Weg, der quer durchs Gelände führt und zu beiden Seiten einen weiten Blick über das Moor erlaubt. Die beiden Aussichtstürme und der schwankende Torfgang bleiben uns allerdings verwehrt.
Bevor wir mittenhinein ins Abenteuer kutschieren, erklären uns Starkmann und Tüllinghoff, was das 1971 unter Schutz gestellte Recker Moor mit seinem nassen, nährstoffarmen Untergrund und seiner kargen, offenen Landschaft zu einem so besonderen Lebensraum für viele selten gewordene Tier- und Pflanzenarten macht. Dem Großen Brachvogel, einem neben der Bekassine und der Uferschnepfe typischen Bewohner des EU-Vogelschutzgebietes Düsterdieker Niederung, zu der auch das Recker und das Mettinger Moor gehören, können wir sogar tief in die Augen schauen und ihm das beige-braune Federkleid tätscheln. Allerdings nur als präpariertem Exemplar, das Thomas Starkmann kurzerhand aus dem Kofferraum zaubert.
Reichlich Anschauungsmaterial im Gepäck
Aber dann rattern wir endgültig los. Der Weg ist, wie Naturwege eben sind: steinig, uneben, hier und da von Gräsern bewachsen und mit Laub und kleineren Ästen gesprenkelt. Hin und wieder kommen uns Radfahrer entgegen und wir müssen ins Gestrüpp am Rande ausweichen. Die Mitarbeiter der Biologischen Station lassen sich Zeit und bauen im Laufe der rund zweistündigen Wanderung immer wieder Verschnaufpausen ein. Keine zufällig gewählten, wie sich bald herausstellt: Im Schatten einer Eberesche fischt Thomas Starkmann frisch gebackenes Brot und ein Gläschen selbstgemachte Vogelbeeren-Marmelade zum Verkosten aus seinem Rucksack – „Die schmeckt zwar herb, ist aber richtig zubereitet nicht giftig“, versicherter uns. Vorübergehend werden die Rollatoren zum Buffet umfunktioniert.
An einer anderen Stelle packt er einen Bildband aus, der das ärmliche Leben der ersten Siedler in den westfälischen Mooren veranschaulicht. Robert Tüllinghoff hat außerdem jede Menge Bestimmungsbücher dabei, sodass wir wenigstens im Zweidimensionalen sehen, was sich hier – besonders zur Zug- und Brutzeit im Frühjahr – dreidimensional so alles tummelt: Blaukehlchen (2018 mehr als zehn Brutpaare), Schwarzkehlchen (15 Brutpaare), Baumfalke (1 Brutpaar) und Sumpfohreule (einziger Brutplatz in NRW). Auch Krickenten, Steinkäuze, Kibitze, Rebhühner und Kuckucke sind regelmäßig im Recker Moor anzutreffen sowie große Trupps von Kranichen als Durchzügler. Für die Schlingnatter und den Moorfrosch ist das Naturschutzgebiet ebenso ein zuhause wie für mehrere hundert verschiedene Arten von Nachtfaltern.
Positive Resonanz
Vom auch mit dem Rollator gut zugänglichen Metallsteg aus, der gegenüber des Schnepfenturms liegt, werfen wir noch einen ausgiebigen Blick auf Pfeifen- und Wollgras, Besen-, Glocken- und Rosmarinheide. Den Sonnentau hat die Dürre allerdings schon hinweggerafft. „Hier müssen wir unbedingt nochmal im nächsten April herkommen“, höre ich eine Rollator-Kollegin entschlossen zu ihrem Mann sagen, „ich wusste gar nicht, wie schön es im Moor ist.“ Den beiden hat der Ausflug – wie allen anderen Teilnehmern mit und ohne Einschränkung auch – ausnehmend gut gefallen. Nur einer dürfte sich etwas ärgern: meine Mutter, die jetzt mit einem Erfahrungsbericht aus zweiter Hand vorlieb nehmen muss.
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 22.08.2018)