Wie eine lebendig gewordene Plastikfigur in einer Modelleisenbahn-Landschaft komme ich mir vor, als ich mit Andreas Preuß und Norbert Krebeck durch den imposanten Wald aus Stahl spaziere. An einem leichten Hang zwischen der Trasse der A 30 und der L 501 in Westerkappeln-Velpe ragen auf einer Fläche von 13 Hektar dicht an dicht mehr als 500 aus schlanken Gitterelementen geformte Kreaturen in den Himmel. Das leise Rauschen, das uns umspielt, ist mitnichten der Wind in den Weiden, sondern wird durch feine Entladungen verursacht, die hoch über unseren Köpfen an den scheinbar endlosen Lianen aus Aluminium entlang knistern. Der stählerne Forst erweist sich als „abgeschlossene elektrische Betriebsstätte“ – kurz: als Umspannwerk.
Möglichst viel und möglichst schnell
So fremd mir diese Welt aus Watt und Volt, Ohm und Ampere bisher geblieben ist, so vertraut stiefeln meine beiden Begleiter, Mitarbeiter des Dortmunder Netzbetreibers Amprion, durch den energiegeladenen Stangenwald hindurch. „Im Prinzip befinden wir uns hier mittendrin in einer Art Trafo, wie man ihn von jeder Modelleisenbahn her kennt“, erklärt Norbert Krebeck, Leiter der Primärtechnik Osnabrück. „Nur, dass unser Trafo etwas größer ist.“ Das Werk in Velpe ist eine von 160 Schalt- und Umspannanlagen, die das Unternehmen neben rund 11.000 Kilometer Höchstspannungsnetz deutschlandweit betreibt.
Auch mein Alltag, versichern mir Krebeck und sein Kollege Andreas Preuß, der für die Kommunikation bei der Amprion zuständig ist, sei unmittelbar verbunden mit diesem gewaltigen Fluss aus Energie, der hier über verschiedene Stufen strömt, in niedrigere Spannungsebenen umgewandelt, verteilt und weitergeleitet wird. Wir machen uns auf den Weg zur nördlichen Grenze des Geländes, hinter der auf der anderen Straßenseite ein stählerner Koloss von etwa 70 Metern Höhe steht: der letzte Posten der Höchstspannungsleitung „Niedersachsen Nord“ vor dem Umspannwerk Velpe. Die dicken Adern, die an den Traversen des Freileitungsmasts hängen, transportieren den Strom aus den entfernten Kraftwerken und Umspannanlagen. In den Leitungen herrscht eine Spannung von 380.000 Volt. „Höchstspannung“, erklärt Krebeck und nickt ernst: „Absolute Lebensgefahr.“ Aber ideal, um möglichst schnell möglichst viel Energie von A nach B zu bringen.
Ein Hauch von Raubtierkäfig
Was also muss alles passieren, um die elektrische Energie, die durch die Stromautobahn jagt, soweit „abzubremsen“, dass sie auch gefahrlos die feiner verästelten Wege bis hinein in die Siedlungen und zu den Wohnungen passieren kann, um dann schließlich das Gros unserer auf 220 oder 380 Volt ausgelegten Haushaltsgeräte zu versorgen?
Norbert Krebeck und Andreas Preuß legen die Köpfe in den Nacken: Über uns in rund 25 Meter Höhe werden die 380.000 Volt Höchstspannung der „Niedersachsen Nord“ auf eine der insgesamt drei zur Verfügung stehenden Sammelschienen, die einem „metallenem Laubengang“ ähneln, geleitet. Gleich an mehreren Stellen gibt es robuste, scherenförmige Trennschalter, an denen der gigantische Stromfluss unterbrochen werden kann. „Das ist extrem wichtig für die Sicherheit“, erklärt Krebeck. Denn: Der Strom will fließen, das ist sein Naturell – entweder kontrolliert durch die vorgegebenen Leitungen oder unkontrolliert als bedrohlicher Lichtbogen Richtung Erde. Damit letzteres nicht passiert, vermittelt jedes Umspannwerk zugleich auch einen Hauch von Raubtierkäfig: Wegen der Gefahr, die an einigen Stellen von der dort herrschenden Spannung ausgeht, gibt es in dem Labyrinth aus Gittern und Stangen immer wieder auch Bereiche, die selbst von den Mitarbeitern nicht betreten werden dürfen. Doch an den anderen Stellen hängen die Metallstränge – genau wie an den Freileitungsmasten – so hoch, dass ein Überspringen der Ladung ausgeschlossen ist.
Ein Transformator so groß wie ein Güterwaggon
Von der Sammelschiene geht es – wiederum über eine zwischengeschaltete Trennmöglichkeit – weiter zum eigentlichen Transformator „T 421“. Der ist Baujahr 1979, wiegt inklusive seiner 70.000-Liter-Öl-Kühlung stolze 531 Tonnen und erinnert rein optisch an einen abgekoppelten Güterwaggon. Auf seiner Eingangsseite ragen drei mehrere Meter lange „Isolier-Kerzen“ heraus: Hier werden die 380.000 Volt eingespeist, um dann im Inneren des Transformators über verschiedene Spulen auf eine Spannung von 220.000 Volt – immer noch „Höchstspannung“ – herunter geregelt zu werden. Es folgen: weitere Leitungen und weitere Verteilerstellen.
Der zweite Transformator im Velper Umspannwerk, „T 411“, ist dafür zuständig, die Höchst- zu einer Hochspannung von 110.000 Volt zu reduzieren. Mit der geringeren Spannung, die in den nachfolgenden Leitungen herrscht, werden nun auch die Masten zusehends niedriger. Auch für diese Spannungsebene gibt es im Umspannwerk Velpe ein eigenes Verteilerfeld, das von dem regionalen Netzbetreiber Westnetz betreut wird. Je feiner die Verästelungen Richtung Endverbraucher, desto geringer die Spannung, die zum Transport der elektrischen Energie noch benötigt wird. Eine Ausnahme bilden die größeren Industriebetriebe, die mitunter über einen eigenen 110.000-Volt-Anschluss verfügen.
Bekömmliche 220 Volt für die Kaffeemaschine
„Fürstenau“, „Ibbenbüren“, „Lengerich“, „Lotte“ oder „Halen“ heißen die Hochspannungsleitungen, die schließlich den „Energie-Bahnhof“ am Hang zwischen der A 30 und der L 501 verlassen: Alte Bekannte, die benachbarte Städte, Gemeinden oder vertraute Bauerschaften bezeichnen. Der Strom ist also schon fast am Ziel angekommen. An den jeweiligen Umspannanlagen vor Ort werden dann die 110.000 Volt – wiederum über einen entsprechenden Transformator – zu einer Mittelspannung von 10.000 Volt „gezähmt“. Diese wird mittlerweile zum Großteil über Erdkabel weiter zu den Trafo-Stationen der Ortsnetze transportiert, wo sie schussendlich in eine „hausverträgliche“ Niederspannung herunter geregelt wird. „Und damit kommen dann auch die Kaffemaschine, der PC – oder die Modelleisenbahn – bestens zurecht“, sagt Norbert Krebeck und nickt zufrieden.
Zur Sache – „Bürgerdialog Stromnetz“: Gefördert durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie betreibt die Initiative „Bürgerdialog Stromnetz“ die Internetseite www.buergerdialog-stromnetz.de. Hier können sich Bürger und Kommunen über den im BBPIG ( Bundesbedarfsplangesetz) festgelegten Ausbau des Stromnetztes informieren und Anregungen äußern. Auf der interaktiven Landkarte ist auch das Vorhaben „Conneforde – Westerkappeln“ verzeichnet, das „zur Erhöhung der Übertragungskapazität im nördlichen Niedersachsen dient und zum Abtransport stark steigender Onshore- und Offshore-Windenergie erforderlich ist“, heißt es dort. Die geplante 380.000-Volt-Leitung soll die Umspannwerke Cloppenburg und Westerkappeln miteinander verbinden. Der genaue Verlauf der Trasse steht noch nicht fest.
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 09.07.2015; Westfälische Nachrichten, 09.07.2015)