„Wieso denn betreutes Wohnen?“

Vor zehn Jahren, im April 2008, hat das Haus Amaryllis in Bersenbrück eröffnet. Und ist seitdem für viele Senioren, die sich in eine der altersgerechten Wohnungen eingemietet haben und die Serviceangebote des ASD je nach Bedarf nutzen, zu einem neuen Zuhause geworden. Fotos (4): Ulrike Havermeyer

Um ihren Mitmenschen bis zum Lebensende einen eigenständigen und selbstbestimmten Alltag in familiärer Atmosphäre zu ermöglichen, hat Martina Büscher-Woytun gemeinsam mit ihrem Mann Johannes-Ulrich Wojtun und ihrer Tochter Kathrin Wojtun-Wernsmann im April 2008 das Haus Amaryllis gegründet.

Während sich im oberen Stockwerk des bunten Hauses an der Lindenstraße 27 in Bersenbrück 15 seniorengerechte Wohnungen befinden, leben im Erdgeschoss 15 an Demenz erkrankte Personen, die rund um die Uhr begleitet werden. Ein Team von 25 Mitarbeitern des Ambulanten Sozialen Dienstleistungszentrum (ASD) kümmert sich 24 Stunden am Tag um die Bewohner der Hausgemeinschaft.

Amaryllis-Blüte der ersten Stunde

Ein Besuch im oberen Stockwerk: Elisabeth Schulte ist eine Amaryllis-Blüte der ersten Stunde. Gleich als das Haus für seniorengerechtes Wohnen vor zehn Jahren eröffnete, hat sie sich dort eingemietet. „Du bist ja verrückt – wieso denn betreutes Wohnen?“, hätten viele ihrer Bekannten sie verständnislos gefragt, „du bist doch noch fit.“ Doch genau das sei ja der Grund gewesen, betont die heute 87-Jährige, weshalb sie diese Entscheidung getroffen habe: „Wer fit ist, der kann selber bestimmen, wohin er möchte und wird später nicht irgendwohin abgeschoben“, gibt die Seniorin energisch zu Protokoll. „Heute sagen natürlich alle: Das mit dem Haus Amaryllis, das hast du damals völlig richtig gemacht.“

Allwöchentlicher Kaffeeklatsch

Amüsiert blickt sie in die Runde. Ihre Nachbarn, mit denen sie sich allwöchentlich zum Kaffeeklatsch im Gemeinschaftsraum verabredet, nicken zustimmend. Den meisten von ihnen ist es ähnlich ergangen. Und auch, wenn es dem einen oder der anderen nicht ganz leicht gefallen sein mag, die eigene Wohnung aufzugeben und mit dem Einzug in das Haus Amaryllis bewusst ein neues Kapitel im Buch des Lebens aufzuschlagen – bereut hat diesen Schritt hier keiner: „Also ich wäre sonst ganz sicher vereinsamt“, sinniert Elisabeth Hartmann, die nach dem Tod ihres Mannes in das Haus an der Lindenstraße eingezogen ist, „hier bin ich in Gesellschaft und habe immer jemanden zum Reden.“

Jeden Tag ein volles Programm

Und außerdem – wenn denn Bedarf besteht – auch noch jede Menge zu tun: Tagesreisen stehen genauso auf dem Programm wie Besichtigungen, Ausflüge mit dem Planwagen, Konzertbesuche, ein hauseigenes Schützenfest, Kontakte zu örtlichen Vereinen, Singen, Handarbeiten, Gymnastik oder Gedächtnistraining. Um nur ein paar Angebote zu nennen. Elisabeth Schulte winkt ab: „Wer möchte, kann hier jeden Tag etwas unternehmen.“ Sie lacht und lehnt sich entspannt in ihrem Lehnstuhl zurück. Doch für heute hat sie sich nichts Aufregendes mehr vorgenommen. Nach diesem Gespräch steht ihr der Sinn eher nach etwas Ruhe.

Das Geheimnis des Wohlfühlens

Gemütliche Runde im Wintergarten: Hier sorgen Plattdeutsche Geschichten für angeregte Gespräche.

„Jeder kann, keiner muss“, hinter diesem Grundsatz von ASD-Geschäftsführerin Martina Büscher-Wojtun und ihrem Team verbirgt sich möglicherweise eines der Geheimnisse des Wohlfühlens. Denn das Spektrum des Zusammenlebens reicht im Haus Amaryllis von völliger Selbstständigkeit über kleinere Pflegeleistungen, hauswirtschaftliche Serviceangebote, Essen auf Rädern bis hin zur vollstationären Pflege. „Und – ja, bei uns dürfen die Bewohner am Ende ihres Lebens auch sterben“, sagt Martina Büscher-Wojtun, „denn hier ist ihr Zuhause.“ Und entsprechend dieser Einstellung begegnen sich Bewohner und Mitarbeiter mit familiärer Nähe. „Gegenseitiger Respekt vor den Bedürfnissen und Wünschen des anderen ist das Fundament unseres Miteinanders“, sagt Wojtun und verweist auf einen weiteren Grundsatz, der im Haus Amaryllis großgeschrieben wird: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“

Feste Strukturen für Menschen mit Demenz

Während im ersten Stock die Bewohner weitestgehend unabhängig ihren Tag planen, herrscht auch bei der Hausgemeinschaft an Demenz Erkrankter im Erdgeschoss keine Langeweile. „Menschen, die an Demenz erkrankt sind, hilft es allerdings, wenn sie sich an immer den gleichen festen Strukturen orientieren können“, erklärt Pflegedienstleiterin Karin Engelke. Und genau dafür sorgen Engelke und ihre Kolleginnen. Das fängt schon bei der Sitzordnung beim Frühstücken an – jeder sitzt am liebsten auf immer demselben Platz, und zieht sich weiter durch den gesamten Tagesablauf.

„Kannst dich auf mich verlassen.“

„Wobei natürlich auch hier immer der Mensch als einzigartige Persönlichkeit und seine Bedürfnisse ausschlaggebend sind“, betont Krankenschwester Antje Heuer. Sie streicht einer abwesend wirkenden älteren Frau behutsam über die Wange. „Was meinst du, wollen wir mal zusammen versuchen, ein Stückchen zu gehen?“, fragt sie aufmunternd und reicht der Seniorin den Arm. „Ich halte dich fest, kannst dich auf mich verlassen.“ Sehr langsam, Schritt für Schritt, schlurfen die beiden den Flur entlang.

Abtrocknen mit zitternden Fingern

Immer viel zu tun gibt es im Küchenbereich: Hauswirtschafterin Anika Heppner bereitet mit den Seniorinnen einen Kuchen für den Nachmittag zu.

Im Küchenbereich hat Hauswirtschafterin Anika Heppner inzwischen den Frühstückstisch ab- und die Spülmaschine ausgeräumt. An einem Tischchen sitzen zwei Bewohnerinnen und trocknen mit konzentrierten Blicken und zitternden Fingern die noch feuchten Tassen und Teller ab. Eine dritte Seniorin faltet mit bewundernswerter Ausdauer Geschirrhandtücher. Etwas weiter entfernt sitzt ein weißhaariger Mann mit geschlossenen Augen im Rollstuhl, den Kopf in den Nacken gelegt und schnarcht leise vor sich hin. Altenpflegerin Yvonne Siegl zieht ihm behutsam die Wolldecke etwas höher über die Brust und lächelt: „Ja, ruh dich erstmal aus“, flüstert sie und klopft ihm sanft auf die Schulter. Dann trägt sie Getränke zu einer Gruppe intensiv miteinander plaudernder Frauen in den Wintergarten herüber.

Insel der Beständigkeit

Dort hat das Team um Martina Büscher-Wojtun eine weitere Insel der Beständigkeit für die Bewohner aufgetürmt. Heute liest Antje Heuer lustige Geschichten und Anekdoten vor. Auf Plattdeutsch. „Ihr wisst ja, dass ich das nicht so gut kann“, wendet sie sich an ihre Zuhörer, „bei dem einen oder anderen plattdeutschen Wort müsst ihr mir helfen, ja?“ Helene, Hildegard, Gerda und Agnes nicken ernst und lauschen gebannt. Immer wieder löst die Erzählung eigene Erinnerungen in ihren Köpfen aus. „Ja, so war das bei uns auch“, ruft Hildegard begeistert – und lässt ein Kapitel ihrer Biografie wieder aufleben. Die anderen amüsieren sich, stimmen ihr zu – oder haben andere Szenen und Bilder in ihrem Gedächtnis. Antje Heuer hört zu, fragt nach – und nimmt schließlich den Faden der Geschichte neuerlich auf.

„Aber mal ganz ehrlich“, raunt Gerda unvermittelt und beugt sich mit verschwörerischer Miene herüber, „so hundertprozentig in Ordnung ist in diesem Haus gar nichts.“ Sie blickt sich um, grinst verschmitzt und verkündet dann mit stolzer Genugtuung: „Hier ist nämlich alles zu tausend Prozent schön.“

Bei gutem Wetter genießen die Bewohner des Hauses Amaryllis auch den lauschig angelegten Garten – der bei vielen Erinnerungen an die eigene Biografie auslöst.

(Erschienen in: Bersenbrücker Kreisblatt, 17.05.2018)