Fifty Shades of Age oder: Die Facetten der Schönheit

Um die Schattierungen des Alters ansprechend herauszuarbeiten oder auch mal rigoros zu übertünchen, konnten die Teilnehmerinnen des VHS-Kurses „Natürlich schön für Frauen ab 50“ auf ein beeindruckendes Arsenal an Kosmetikartikeln zurückgreifen. Foto: Ulrike Havermeyer

Geplatzte Äderchen. Falten. Schlupflider. Der Schönheit Makel im menschlichen Antlitz gibt es viele. Und je mehr Geschichten das Leben uns ins Gesicht krakelt, desto markanter werden seine Hieroglyphen. Aber muss man die Handschrift der Natur eigentlich akzeptieren?

Mein Wissen um die kosmetische Eigenoptimierung ist schon vor etlichen Jahrzehnten eingefroren und beschränkt sich auf den – zu allem Übel auch noch: dilettantischen – Einsatz eines Kajal-Stiftes. Was da an Tuben und Töpfchen, an Pinseln und duftigem Gedöns in unserem Bad herumsteht, gehört allesamt zum unverzichtbaren Alltags-Equipment des Nachwuchses. Um nicht länger als hoffnungslose Ignorantin in Sachen Trend und Stil zu gelten, besuche ich den Schminkkurs der Volkshochschule „Natürlich schön für Frauen ab 50“ von Gisela Overlöper.

Die verletzliche Blöße des Gesichts

Die ausdrücklich in der Anmeldung hervorgehobene Bitte, ungeschminkt zum Kurs zu erscheinen, fällt mir – uneitel bis zur Schluffigkeit – denn auch nicht schwer. Als äußerst befremdlich dagegen empfindet meine Kurs-Kollegin Inge die verletzliche Blöße ihres Gesichts: „Also, ich gehe sonst nie ohne Make-up aus dem Haus“, schüttelt die 57-Jährige fassungslos den Kopf und schaut mit einem erschöpften Lächeln in die Runde. Man spürt, wie viel Kraft es sie kostet, sich ohne korrigierende Schutzschicht unter die kritischen Blicke ihrer Mitmenschen zu wagen.

Mit sich selbst ins Reine kommen

Auch die anderen Kursteilnehmerinnen starren etwas pikiert in die ungeschönten Wahrheiten, die ihnen aus dem Vergrößerungsspiegel entgegenblicken: glänzende Haut und vereinzelte rote Flecken, Unebenheiten, große Poren, müde Augen oder gefühlt viel zu blasse Brauen. Visagistin Gisela Overlöper nickt verständnisvoll. „Die Falten, die gehören nun einmal ab einem gewissen Alter zu uns“, stellt sie jedoch unverblümt in den Raum. Da müsse Jede mit sich selbst ins Reine kommen. Bange Blicke erheben sich über die Schminkspiegelkanten. „Aber wir können schon nachhelfen“, wiegelt Gisela Overlöper beruhigend ab, „dass diese Falten ein bisschen weicher und nicht ganz so tief aussehen.“ Allgemeines Aufatmen.

Malen nach Zahlen?

Seit mehr als zehn Jahren bietet die 61-jährige Ostbevernerin Kurse an den Volkshochschulen Lengerich/Tecklenburg und Osnabrücker Land an. Darin erklärt sie Frauen über 50, wie diese ihr Spiegelbild dem eigenen Selbstverständnis dezent aber wirkungsvoll anpassen können. „Mein Mann sagt immer: Na, unterrichtest du heute wieder Malen nach Zahlen?“ Bei dieser Bemerkung muss selbst Inge kichern. Humor, der von innen kommt, hilft nicht selten mindestens so gut wie oberflächlich aufgetragene Makulatur. Am besten ist natürlich beides.

Im Grunde ein reines Handwerk

Genug getröstet und gescherzt – nun kommen endlich die Tuben auf den Tisch. Dass das Schminken am Ende reines Handwerk ist, habe ich immer schon geahnt. Es geht ums Ausspachteln und Grundieren, ums Nivellieren, Konturieren und Akzentuieren, aber vor allem geht es um die richtige Technik und den korrekten Einsatz des Materials. Warum ist eine Tagescreme als Basis so wichtig? Wie verwende ich den Lidschatten, damit er meine Augen zum Strahlen bringt. Und warum ist ein weißer Kajal-Stift der natürliche Feind jeder Falte?

Beachtliches Arsenal einer Visagistin

Mikroskopisch zarte Puderwolken, ein Bataillon aus Make-up-Fläschchen unterschiedlichster Farbvarianten, ganze Miniatur-Stangenwälder aus Abdeck-, Anti-Couperose-, verschiedenfarbigen Kajal-, Lippen- und Eyelinerstiften, dazu palettenweise Rouge und Lidschatten – mit oder ohne Glitzerpartikel, Schwämmchen, samtweiche Pinsel in allen nur erdenklichen Stärken, Gel-Pads, Spatel und Wattestäbchen. Gisela Overlöper verfügt über ein beeindruckendes Arsenal von Kosmetikartikeln und Zubehör, die sie bereitwillig an uns verteilt.

Sich jünger mogeln? Natürlich erlaubt!

„Das ganze ergibt ja nur Sinn, wenn Sie sich selbst zu schminken lernen“, lautet ihr Konzept. Der Part der Visagistin besteht eher darin, zu beraten, anzuleiten, zu inspirieren und die Frauen über 50 nachdrücklich darin zu bestärken, die einzigartige Schönheit des eigenen Gesichts anzunehmen. „Wenn Sie sich dann zu einem bestimmten Anlass etwas jünger mogeln wollen, ist das natürlich auch erlaubt“, plädiert sie für eine nuancierte Interpretation des Geburtsdatums.

Nie mehr ratlos durchs Bad irren

Während die anderen Kursteilnehmerinnen von Pinselstrich zu Pinselstrich hübscher aussehen und immer präsenter erscheinen, füllt sich mein Notizblock Seiten um Seite. Zumindest was die Theorie angeht, habe ich mein Wissen an diesem Nachmittag mächtig aufpoliert – und werde ab sofort nicht mehr ratlos zwischen Concealer und Foundation durchs eigene Bad irren.

Optische Selbstreflexion

„Das gibt’s ja wohl nicht“, ruft Inge da mit einem Mal unvermittelt, als sie den Gel-Eyeliner aus der Hand legt und sich skeptisch der optischen Selbstreflexion widmet: „Die Schlupflider sind so gut wie weg! Und überhaupt: Das ist ja ein ganz anderer Ausdruck – viel frischer.“ Sehr zufrieden betrachtet sie ihre fertig geschminkte, rechte Gesichtshälfte. Und die linke? „Die bleibt so, wie sie nun einmal ist: ganz ohne Make-up“, entscheidet sie rigoros: „Damit die zuhause nachher auch den Unterschied sehen.“ Dann wendet sie sich wieder – sehr interessiert und vollkommen im Einklang mit den soeben neu entdeckten Facetten des eigenen Ichs – ihrem entspannt lächelnden Alter ego in der Spiegelwelt zu.

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 06.06.2018)