An diesem Morgen hat das kleine Böckchen Glück: Der Hexakopter der Rehkitzrettung Osnabrücker Land entdeckt das Jungtier mithilfe seiner Wärmebildkamera gerade noch rechtzeitig, bevor die Erntemaschine zur Wiesenmahd anrückt.
Angestrengt äugen Kreisjägermeister Martin Meyer Lührmann und Thomas Lammerding, Vorsitzender der Jägerschaft Bersenbrück, in die morgendliche Dämmerung hinein. Langsam gibt die aufgehende Maisonne die Konturen der Gräser frei, die sich auf „Ottes Wiese“ am Rand der Gemeinde Merzen im sanften Windhauch wiegen. Um sie herum: Stille. Selbst die Vögel scheinen noch zu schlafen. Meyer Lührmann blickt unruhig auf seine Uhr: „Wir haben nur noch zwei Stunden“, drängt er zum Aufbruch, „der Lohnunternehmer will um sieben Uhr anfangen zu mähen.“
Eine ideale Kinderstube
Zu früher Stunde haben sich rund ein Dutzend Grünröcke an der lauschig gelegenen Wiese versammelt. Umgeben von Wald, ausgestattet mit einem natürlichen Quellbereich, der selbst im Sommer noch für Feuchtigkeit sorgt, bilden die rund vier Hektar Grünland eine ideale Kinderstube für das heimische Rehwild. Aber obwohl sie unter Naturschutz steht, bleibt Ottes Wiese dennoch eine landwirtschaftliche Nutzfläche – und wird folglich regelmäßig gemäht. „Sobald der Wiesenfuchsschwanz blüht – das war in diesem Jahr am 25. Mai“, erklärt Meyer Lührmann, „werden auch solche geschützten Bereiche von der Landwirtschaftskammer zur Mahd freigegeben.“
Den Mähtod wirksam verhindern
Doch mit den Erntemaschinen kommt die Gefahr. Und die endet für die kleinen Rehe oft tödlich. Denn statt mit einem Fluchtinstinkt hat die Natur sie in den ersten Lebenswochen mit dem Reflex ausgestattet, sich bei drohendem Unheil ganz tief ins hohe Gras zu ducken und dort reglos abzuwarten. Was bei Fressfeinen funktioniert – junge Kitze haben noch keinen Eigengeruch – lässt moderne Maschinentechnik allerdings kalt: Mehrere Hundert Rehkitze geraten allein im Osnabrücker Land jährlich zwischen die Messer der Mähwerke, schätzt Meyer Lührmann. Und das, obwohl es längst wirksame Strategien gibt, mit denen Jäger, Landwirte und Lohnunternehmer den Mähtod verhindern könnten. Sie müssten nur konsequenter angewendet werden. „Um genau das zu tun, sind wir hier“, erklärt der Kreisjägermeister.
Körperwärme rettet Leben
Denn neben dem Absuchen der Wiesen mit Hunden oder Menschenketten unmittelbar vor der Mahd, dem Mähen der Flächen von innen nach außen, um dem Wild einen Fluchtweg durchs hohe Gras offenen zu halten, hat sich der Einsatz von Wärmebildkameras als besonders effektiv erwiesen. Weil auch die Bersenbrücker Waidmänner mit dem Gedanken spielen, sich zwei derart ausgerüstete Multikopter anzuschaffen, haben sie Sven Pots und Carsten Kemna von der Rehkitzrettung Osnabrücker Land eingeladen. Samt Equipment, versteht sich. So schlagen Meyer Lührmann und seine Kollegen an diesem Morgen gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe: Zum einen können sie den Hexakopter in Aktion erleben, zum anderen wird Ottes Wiese professionell überflogen und etwaige Kitze gerettet. Außer den Jägern sind auch Flächeneigentümer Fritz Gersmann sowie ein Team vom NDR angereist, um sich vom Erfolg der Vorgehensweise zu überzeugen beziehungsweise diesen zu dokumentieren.
„Hoffen auf viele Nachahmer“
„Wir sind Tierfreunde, keine Jäger, und wir hoffen, dass unsere Methode möglichst viele Nachahmer findet – damit möglichst viele Rehkitze gerettet werden können“, sagt Sven Pots und macht den Hexakopter startklar. Seit dem vergangenen Jahr sind er und sein Kollege Carsten Kemna in Sachen Kitzrettung unterwegs. Ehrenamtlich. Wer seine Wiese kontrolliert haben oder sich über das Verfahren informieren möchte, kann mit ihnen unter www.rehkitzrettung.eu einen kostenlosen Termin vereinbaren. „Jetzt in der Mahd- und Setzzeit fliegen wir von vier bis gegen neun Uhr morgens – jeden Tag“, ergänzt Carsten Kemna, während er sich die Virtual-Reality-Brille, in die das Wärmebild übertragen wird, über die Stirn zieht. „Das heißt: Aufstehen um drei Uhr. Dann mit dem Kopter die Gebiete absuchen – und danach zur Arbeit.“
Wie zuverlässig ist die Methode?
In etwa 15 Metern Höhe rauscht kurz darauf der Hexakopter, von sechs Rotoren angetrieben, über die Köpfe der Bersenbrücker Jäger und zieht bedächtig seine Bahnen. Für die Zaungäste haben Pots und Kemna eigens einen Bodenmonitor aufgestellt, auf dem die Grünröcke das Geschehen verfolgen können. Zu sehen ist: sehr viel grauer Griesel… Die Minuten vergehen, der Hexakopter fliegt, der Griesel bleibt. Je weiter die Zeiger seiner Uhr vorrücken, umso rastloser streift Meyer Lührmann umher. „Gestern Abend habe ich hier noch eine Ricke mit ihrem Kitz beobachtet“, bemerkt er besorgt. Sollte die Kamera sie übersehen haben? Ein angespannter Blick aufs Ziffernblatt: kurz vor sieben.
Wenn Grau zum Blockbuster wird
Pots und Kemna lassen sich nicht aus der Ruhe bringen. Mit akribischer Genauigkeit lenken sie die fliegende Kamera über die Grünfläche. „Wenn wir nichts finden, dann ist diese Wiese sauber“, garantieren sie. Im Hintergrund hört man den Mäher näher kommen. Das Grau auf dem Monitor mutiert zum Blockbuster. Die Jäger verharren so gebannt über der Projektion wie ein im hohen Gras vor dem Feind erstarrtes Kitz. Plötzlich taucht ein violetter Flecken im Sichtfeld auf. „Dichter ran“, weist Kemna via Funkgerät seinen Kollegen an. Der Klecks nimmt mehr und mehr die Gestalt eines Tieres an… Und mit einem Mal geht alles ganz schnell: „Wo ist das Finderteam? Den Korb! Beeilung!“
Ricke in Alarmbereitschaft
Mit einem Metallkorb wird das Kitz, das weniger verängstigt als eher verdutzt wirkt, an Ort und Stelle von Carsten Kemna fixiert. „Eine Möglichkeit ist es, das Tier hier unter dem Korb – der aber wegen der Sonneneinstrahlung und der gefräßigen Krähen unbedingt mit Gras abgedeckt werden muss – zu belassen“, erklärt er. Um den mit Fähnchen markierten Korb herum bleibe dann einfach eine Insel aus hohem Gras bestehen, und am Abend könne das Tier wieder frei gelassen werden. Die Bersenbrücker Jäger bevorzugen eine andere Lösung: In geruchsneutralen Tierarzthandschuhen trägt Meyer Lührmanns Tochter Anna den Winzling behutsam in die Sicherheit des benachbarten Waldes. Und kaum hat das Kitz einen schrillen Kontaktschrei getan, schaut auch schon die Ricke in einiger Entfernung aus dem Gebüsch und springt ihrem Nachwuchs zu Hilfe – während am anderen Ende der Wiese der Mäher auf die Grünfläche rollt.
(Erschienen in: Bersenbrücker Kreisblatt, 29.05.2018)