Angefangen hat das Ganze in einem Seminar „Leichte Sprache“. Aufhören tut es vermutlich nie. Irgendwann dazwischen ist diese Reportage entstanden.
Was genau das Ganze ist, um das es hier geht? Gute Frage. Denn mit dem Formulieren einer Antwort nimmt das Problem auch schon Fahrt auf – und katapultiert uns mitten hinein in die Materie. In den Wortsalat. In das Kuddelmuddel aus Schreiben und Verstehen, aus Erklären und Verwirren, aus Nachdenken und Neudenken. Sogar vermeintlich Selbstverständliches lässt sich nämlich oft gar nicht so leicht in Worte fassen. Von komplizierteren Zusammenhängen gar nicht erst zu reden.
Nur nicht den Mut verlieren
„Was heißt ,vermeintlich Selbstverständliches‘?“, fragt Shpresa Matoshi und schüttelt belustigt den Kopf. Shpresa Matoshi ist ausgebildete Prüferin für Leichte Sprache und Mitarbeiterin im Osnabrücker „Büro für Leichte Sprache und Barrierefreiheit“. Als Lernbehinderte mit einer Sehschwierigkeit kontrolliert sie Texte in Leichter Sprache auf deren Verständlichkeit. Formulare von Behörden beispielsweise. Oder Arbeitsverträge von Firmen. Zum Glück macht sie das mit viel Wohlwollen und Geduld – und mit noch mehr Humor, sodass auch ungeübte Schreiberinnen, die fest in der Standardsprache verhaftet sind, nicht sofort den Mut verlieren.
Hindernisse aus Buchstaben
Und wo wir schon einmal dabei sind, Shpresa Matoshi lächelt so charmant wie unerbittlich: „Was bedeutet ,in Worte fassen‘?“ Also ein neuer Versuch: Dieser Text, das Ganze mithin, handelt von Sprache. Von leichten und von schwierigen Wörtern. Von einfachen Sätzen, die jeder verstehen kann, und von verschwurbeltem Kauderwelsch. Von Hindernissen im Kopf, die aus Buchstaben gebaut sind. Und davon, wie man diese Hindernisse wegräumen kann. Von Inklusion. Und – ja! – er handelt auch davon, wie schwierig es für Amateure ist, sich in Leichter Sprache auszudrücken.
Viele Medien tun sich (noch) schwer
Denn dieser Text ist, soviel steht leider fest, ganz sicher nicht in Leichter Sprache geschrieben – weder, was die Wortwahl und den Satzbau, noch was das Schriftbild betrifft. Während sich viele Redaktionen mit dem Thema Leichte Sprache noch schwertun (Ausnahmen sind zum Beispiel www.taz.de/leicht oder www.nachrichtenleicht.de oder www.ndr.de/fernsehen/service/leichte_sprache), bieten immer mehr Bundes- und Landesbehörden, Ämter, Institutionen und Unternehmen zusätzliche Versionen ihrer Standardtexte in Leichter Sprache an. Beziehungsweise sie sind aufgefordert, genau das zu tun.
Engagiertes Netzwerk
„Mit der Novellierung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) sind die Einrichtungen des Bundes seit dem 1. Januar 2018 dazu verpflichtet, Texte in Leichter Sprache vorzuweisen“, erklärt Thorsten Lotze, Vorstandsmitglied des Vereins „Netzwerk Leichte Sprache“. Das Netzwerk ist ein Zusammenschluss von rund 85 Übersetzungsbüros aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Die Mitglieder des Vereins engagieren sich speziell für die Teilhabe aller Menschen an Kommunikation, Information und Meinungsbildung.
Im BGG heißt es unter Paragraf 11, Verständlichkeit und Leichte Sprache: „Träger öffentlicher Gewalt (…) sollen mit Menschen mit geistigen Behinderungen und Menschen mit seelischen Behinderungen in einfacher und verständlicher Sprache kommunizieren. Auf Verlangen sollen sie ihnen insbesondere Bescheide, Allgemeinverfügungen, öffentlich-rechtliche Verträge und Vordrucke in einfacher und verständlicher Weise erläutern.“ Und weiter: „Die Bundesregierung wirkt darauf hin, dass die (…) Träger öffentlicher Gewalt die Leichte Sprache stärker einsetzen und ihre Kompetenzen für das Verfassen von Texten in Leichter Sprache auf- und ausgebaut werden.“
Aktive Verben, kurze Sätze
Nach den Richtlinien des Netzwerks ist die Leichte Sprache unter anderem gekennzeichnet durch: bekannte und möglichst kurze Wörter, aktive Verben, kurze Sätze, einen einfachen Satzbau, das Vermeiden von Fach- und Fremdwörtern, das Vermeiden von Sprichwörtern und Redewendungen sowie das Vermeiden des Konjunktivs. Geschrieben wird sie in großer Schrift (mindestens Schriftgröße 14 Punkt), linksbündig, mit vielen Absätzen und großem Zeilenabstand. Der Ratgeber „Leichte Sprache“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Leichte Sprache umfasst 50 Regeln und Tipps für das Schreiben und Gestalten von Texten, den Einsatz von Abbildungen und das Verwenden von Zahlen und Symbolen.
Experten mit Lernschwierigkeiten
Thorsten Lotze, der als Diplom-Sozialarbeiter hauptberuflich bei der Heilpädagogischen Hilfe in Osnabrück tätig ist, befasst sich schon seit fast zehn Jahren mit dem Thema Leichte Sprache. Im November 2014 hat er das Büro für Leichte Sprache und Barrierefreiheit gegründet, in dem außer Shpresa Matoshi noch sechs weitere Mitarbeiter mit Lernschwierigkeiten als ausgebildete Prüfer beschäftigt sind. „Wer anderes als Shpresa und ihre Kollegen könnte besser beurteilen, ob ein in Leichte Sprache übersetzter Text auch tatsächlich verständlich ist?“, gibt er zu bedenken, „sie sind hier ganz klar die Experten.“ Gemeinsam haben sie unter anderem die Broschüre „Die Deutschen Grundrechte. Eine Zusammenfassung in Leichter Sprache“ mit herausgegeben:
Derzeit arbeitet das Team an einem besonders spannenden Projekt: In Kooperation mit der Hochschule Osnabrück entwickeln Lotze, Matoshi und ihre Mitstreiter ein Konzept für eine inklusive Stadtführung. Regelmäßig treffen sie sich mit Stefanie Mergelmeyer und Lukas Möller, die sich im Studiengang Soziale Arbeit für das Praxisprojekt Behinderung eingeschrieben haben. „Zuerst habe ich gedacht: Leichte Sprache ist bestimmt total einfach“, erinnert sich Möller, noch immer reichlich amüsiert über die eigene Naivität. „Aber sich mit Leichter Sprache auseinanderzusetzen, ist nicht nur anspruchsvoller als erwartet, sondern auch sehr interessant und vor allem: nachhaltig.“ Denn ganz gleich, ob er es beruflich später einmal mit Menschen mit Behinderungen oder Lernschwierigkeiten zu tun bekomme, mit älteren oder an Demenz erkrankten Personen, mit Migranten oder funktionalen Analphabeten – Leichte Sprache erleichtert vieles. Und das in nahezu allen Bereichen.
Im Rollstuhl übers Kopfsteinpflaster
Ortstermin in der Osnabrücker Altstadt. Tatendurstig rollt und spaziert die bunt gemischte Truppe mit wachen Augen und eifrig diskutierend vom Heger Tor in Richtung Dom. Eine Route für die geplante Stadtführung muss ausgetüftelt – und praktisch erprobt werden. Nicht zu lang darf sie sein. Zeitlich und körperlich gut zu bewältigen. Und natürlich: inhaltlich reizvoll. Osman Sakinmaz und Andreas Wulfekammer vom Büro für Leichte Sprache und Barrierefreiheit rattern mit Rollstuhl und Scooter skeptisch über das Kopfsteinpflaster des historischen Marktplatzes. Jeder Versatz, jede Kante kann hier zur gefährlichen Stolperfalle werden.
Wirrwarr aus Hinweistafeln
„Sehr anstrengend ist das für mich“, moniert Sakinmaz, dass es die Stadtverwaltung offenbar nicht ernsthaft darauf anlegt, den Weg für Touristen mit Behinderung zu ebnen. Selbst der Zugang zum öffentlichen Behinderten-WC neben dem Rathaus ist nur über arg holperiges Geläuf möglich. An einer Kreuzung in der Fußgängerzone legt Andreas Wulfekammer den Kopf weit in den Nacken, um aus seiner Position heraus die Zeichen an einem der Schilderbäume wenigstens halbwegs zu erkennen: Ein verblichener Steckenpferdreiter. Eine kryptische Wellenlinie. Ein horizontal rot-weiß geteiltes Quadrat. Und ziemlich viele, ziemlich winzige Buchstaben. Was das alles bedeutet? Andreas Wulfekammer wiegt unschlüssig den Kopf: „Weiß ich nicht.“ Auch Stefanie Mergelmeyer, Lukas Möller, Gabriele Kalkstein, Shpresa Matoshi und Thorsten Lotze beäugen einigermaßen ratlos das Wirrwarr aus Hinweistafeln.
Perspektivenwechsel eröffnet neue Zugänge
„Menschen mit Einschränkungen haben einen völlig anderen Blick auf die Stadt, ihnen fallen andere Dinge auf, sie stellen andere Fragen“, sagt Thorsten Lotze, und die Faszination, diesen Weg mitzugehen, ist dem gebürtigen Osnabrücker deutlich anzumerken. Schließlich eröffnet ein solcher Perspektivenwechsel auch ihm immer wieder neue Zugänge zu bisher unbekannten oder schlichtweg übersehenen Details seiner Heimat. Diese verkannten Kleinigkeiten sollen neben den offenkundigen Sehenswürdigkeiten das Herzstück der inklusiven Stadtführung bilden, bei der Shpresa Matoshi und ihre Kollegen als Fremdenführer allen Interessierten Rede und Antwort stehen werden – in Leichter Sprache, versteht sich.
„Aber muss das so bleiben?“
„Die Mitarbeiter mit Behinderungen und Lernschwierigkeiten begleiten die Entwicklung der inklusiven Stadtführung nicht nur, sondern sie treffen als Fachleute die Entscheidungen“, unterstreicht Thorsten Lotze. „Sie legen fest, wie diese Führung aussehen soll und werden selbst als Stadtführer aktiv.“ Den Mut, das Engagement und die Kompetenz, die sie dabei an den Tag legten, bewirke hoffentlich, „dass verhärtete Strukturen aufgebrochen werden.“ Denn Inklusion hin, hehres Ziel der Teilhabe her: „Den Menschen mit Lernschwierigkeiten und Behinderungen wird immer noch viel zu wenig zugetraut“, sagt Lotze. Pause. Schweigen. Dann breitet sich auf seinem Gesicht ein herausforderndes Lächeln aus: „Aber muss das so bleiben?“, fragt er. Und die prompte Antwort, die Shpresa Matoshi mit nachdrücklicher Nonchalance liefert, ist nicht nur kurz und präzise, sondern vor allem unmissverständlich: „Nö!“
P.S. Hintergründe zum Making-of der Reportage
Shpresa Matoshi und Osman Sakinmaz als Referenten in dem Seminar „Leichte Sprache“ des Projekts Qualivit vom Landkreis Osnabrück zu erleben, hat mir nicht nur sehr viel Spaß, sondern auch Lust darauf gemacht, mehr über Leichte Sprache herauszufinden. Wie schwierig es ist, an verständliche Erklärungen heranzukommen, und wie großartig und selbstbewusst sich das Team um Thorsten Lotze täglichen aufs Neue im Informationsdschungel behauptet, hat mich schwer beeindruckt. Seit dieser Erfahrung spaziert immer mal wieder eine fiktive Shpresa Matoshi im Miniaturformat durch meinen Kopf und sagt solche Dinge wie: „Was heißt Miniaturformat?“
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 19.05.2018)