Wissen, was ein Katalysator ist. Den langsamen Satz einer Sinfonie vom Recorder dirigiert haben. Ein chinesisches Schriftzeichen schreiben können. In ihrem Bildungsleitfaden „Weltwissen der Siebenjährigen“ wartet die ambitionierte Pädagogin Donata Elschenbroich mit einer langen Liste all jener Dinge auf, die ein siebenjähriges Kind gemacht, gedacht und erlebt haben sollte. Muss ich erwähnen, dass ich, längst ein Vielfaches der „Sieben“ an Jahren, vom Gros dieses Kanons doch nicht die leiseste Ahnung – und das Werk daher im Stillen in das „Weltwissen der Siebzigjährigen“ umbenannt habe? Ein Besuch bei der Arbeitsgemeinschaft „Chinesisch“ des Mettinger Kardinal-von-Galen-Gymnasiums (KvG) bringt mich nun meinem Altersziel wieder einen Schritt näher.
Mein ganz persönlicher Bildungsplan
Lidong Yang-Tonn verteilt die Wörterbücher: Deutsch-Chinesisch. Chinesisch-Deutsch. Schlappe 730 Seiten dick. Seit mehr als fünf Jahren bringt die in Nanchang in der Provinz Jiangxi geborene Chinesin interessierten Kindern und Jugendlichen am Mettinger KvG-, am Ibbenbürener Goethe- und am Tecklenburger Graf-Adolf-Gymnasium ihre Muttersprache näher. Und regelmäßig belegen ihre Schüler bei den landesweit ausgetragenen Sprachwettbewerben vordere Plätze. Wo also sollte ich das Schreiben eines chinesischen Schriftzeichens besser erlernen können als hier? Neugierig geselle ich mich zu Jan-Johann (12 Jahre), Jennifer (11) und Jessy (10), die sich jeden Freitag nach Schulschluss am KvG treffen, um ihrer Leidenschaft zu frönen. Denn die Drei arbeiten, anders als ich, keine persönlichen Bildungspläne ab: Ihnen macht das Sich-hinein-Denken in fremde Sprachen einfach Spaß. Und beneidenswert leicht fällt es ihnen noch dazu.
Polyglott statt einfach „nur“ bilingual
„Also, ich kenne inzwischen schon fünf Sprachen“, überlegt Jan-Johann, der im vergangenen Jahr mit dem Chinesischen begonnen hat: „Russisch durch meine Familie, Englisch in der Schule, etwas Französisch, Latein und jetzt noch Chinesisch.“ – „Du kannst auch Deutsch“, ergänzen Jennifer und Jessy amüsiert. Gerade mal zwölf Jahre alt – und bereits sechs Sprachen im Kopf. Donata Elschenbroich wäre stolz auf Jan-Johann. Auf seine beiden Mitstreiterinnen übrigens nicht weniger – denn auch für Jennifer und Jessy reicht der Begriff bilingual längst nicht mehr aus.
Die Schätze des Gelehrtenzimmers
Nachdem Lidong Yang-Tonn eine Weile mit ihren Schülern auf Chinesisch geplaudert und mithilfe des Wörterbuchs einige kürzere Texte übersetzt hat, wird es spannend für mich: Nun kommen endlich die vier Gegenstände auf den Tisch, die laut Internetlexikon Wikipedia auch heute noch als „die Schätze eines traditionellen chinesischen Gelehrtenzimmers“ gelten: Pinsel, Tusche, Reibstein und Papier. „Wir beschäftigen uns außer mit der Sprache auch immer wieder mit der chinesischen Kultur“, erklärt Lidong Yang-Tonn. Mal wird gesungen, mal wird Tischtennis gespielt – und mal wird, wie heute, die Kunst der Kalligrafie gepflegt. Die ausdrucksstarke Darstellung der Schriftzeichen sei in ihrer Heimat eine hoch angesehene Kunstform, erläutert die Lehrerin. In der Schule und im Alltag werden die vereinfachten Kurzzeichen dagegen mit dem Bleistift oder einem Kugelschreiber zu Papier gebracht.
Wie schwerelos auf dem Papier
Während Jessy, Jennifer und Jan-Johann so flink wie akkurat ihre Blätter mit schwungvoll gepinselten Zeichen füllen, erklärt mir Lidong Yang-Tonn geduldig den Aufbau der im Unterricht verwendeten chinesischen Schrift. Die filigranen Miniaturen setzen sich aus verschiedenen Komponenten zusammen – aus Punkten und Strichen, die waagerecht, senkrecht und diagonal, gerade oder geschwungen miteinander kombiniert werden. Einzelne Elemente können sich wiederholen oder mit anderen Formen nach dem Baukastenprinzip zu komplexeren Ausdrücken zusammen gefügt werden. So zum Beispiel das Kurzzeichen für „China“: Wir schreiben zuerst das Symbol für „Mund“ – eine annähernd rechteckige Form. Von einer senkrechten Linie geteilt wird der Mund zur „Mitte“. Um das „Reich in der Mitte“ zu vervollkommnen, brauchen wir noch das Bild für „Land“ – welches wiederum das Zeichen für „Jade“ beinhaltet. Was für eine anmutige Art, sich auszudrücken: Sogar mit Kugelschreiber und in krakeliger Anfängermanier in mein kariertes Notizheft übertragen, scheinen die Schriftzeichen wie schwerelos über das Papier zu schweben. Die mit Tusche und Pinsel gefertigten Werke von Jennifer, Jessy und Jan-Johann würden – gerahmt und gehängt – jedes Wohnzimmer mit ihrer Eleganz adeln.
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 03.06.2015; Westfälische Nachrichten, 03.06.2015)