Dass man einen zeitgerafften Schnelldurchlauf durch die Vielfalt der Natur auch im gemütlichen Radfahrmodus erleben kann, erfuhren die Teilnehmer einer Exkursion durch die Düsterdieker Niederung. Organisiert hatte das Abenteuer im Rucksackformat die Biologische Station des Kreises Steinfurt.
In den rund anderthalb Jahrzehnten, die meine Familie und ich mittlerweile in Westerbeck zuhause sind, haben wir schon so manchen Kilometer mit dem Fahrrad zurückgelegt. Wir kennen nicht nur unsere, sondern auch weite Bereiche der Nachbargemeinden wie unsere Westentasche. Mit dieser Behauptung prahlen wir zumindest gerne vor dem niedersächsischen Teil unserer Verwandtschaft und geben uns dem wohligen Gefühl hin, längst zum alteingesessen Repertoire des Teckenburger Landes zu gehören. Doch Breitblättriges Knabenkraut? Buntsandstein? Schachbrettfalter? So etwas ist uns auf unseren Ausflügen vor der Haustür nie begegnet. Genauer gesagt: Wir hatten (bis jetzt) einfach keinen Blick dafür.
Fremde in der Heimat geblieben?
Die ernüchternde Erkenntnis nach der rund dreistündigen Radtour unter der Regie von Maike Wilhelm und Thomas Starkmann von der Biologischen Station des Kreises Steinfurt lautet denn auch: Landschaftsökologisch betrachtet sind wir noch immer Fremde in unserer Wahlheimat. Dass allerdings sogar die – ihr Leben lang hier verwurzelten – Lotteraner und Westerkappelner an diesem Nachmittag noch so manches Detail dazugelernt haben dürften und bei den Erklärungen der beiden Naturkundler nicht selten ins Staunen gerieten, war zumindest ein kleiner Trost für mich als Zugezogene.
25 Kilometer Diversität am Stück
„Wir folgen hier in etwa der rund 25 Kilometer langen Kibitzroute, die wir von der Biologischen Station im Rahmen des Projekts Natourismus mit entwickelt haben“, erklärt uns Diplom-Geograf Thomas Starkmann: Von den südlich gelegenen Großen Sloopsteinen in Wersen führt uns unser Weg am östlichen Rand der Feuchtwiesen des Natur- und Vogelschutzgebietes Düsterdieker Niederung Richtung Norden durchs Seester Buchholz bis zum ehemaligen Truppenübungsplatz und jetzigen FFH-Gebiet Vogelpohl in Halen. Von dort aus lotsen uns Maike Wilhelm und Thomas Starkmann über den Roten Berg durch die Bramegge, weiter am Mittellandkanal entlang, legen einen Halt mit uns im Schachselwald und einen weiteren Stopp an der Düsterdieker Aa ein. An der südlichen Grenze der Niederung geht es schließlich wieder zurück zu den Sloopsteinen.
Die Eindrücke erstmal sortieren
Was soll ich sagen? So viele Eindrücke wuchteln kreuz und quer wie aufgeregte Kiebitze durch meinen Kopf, dass ich die Fülle der Vielfalt erst einmal zur Ruhe kommen lassen und sortieren muss. Für den Radfahrer ist die mal offene, mal üppig bewaldete Landschaft rund um die Düsterdieker Niederung ein durchaus überwältigendes Erlebnis; für die meisten Tiere und Pflanzen, die sich hier angesiedelt haben, ist sie zudem sogar überlebenswichtig. „Viele seltene Insekten-, Amphibien- und Vogelarten sind auf solche weitläufigen, mageren und feuchten Flächen angewiesen, wie wir sie hier in dem mehr als 1000 Hektar großen Schutzgebiet noch finden“, erklärt uns Maike Wilhelm und verweist auf Ameisenlöwe, Sandlaufkäfer, Kreuzkröte, Schwarzkehlchen, Feldlerche oder Wiesenpieper.
Zurzeit 29 Brutpaare
Ein besonders prominenter Bewohner der Düsterdieker Niederung – der auf der im Jahr 2016 vom LANUV (Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz NRW) und der Nordrhein-Westfälischen Ornithologengesellschaft herausgegebenen Roten Liste der Brutvogelarten NRW als „stark gefährdet“ verzeichnet ist – ist der Große Brachvogel. Ein schlanker, langbeiniger, etwa Fasan großer, unscheinbar beigebraun gefiederter Watvogel mit einem bis zu 19 Zentimeter langen, leicht nach unten gebogenem Schnabel. „Zurzeit befinden sich 29 Brutpaare in unserem Gebiet“, berichtet Maike Wilhelm, „das ist schon etwas ganz Besonderes.“ Was nach einem stabilen Bestand klingt, birgt jedoch einen Wermutstropfen: „Im vergangenen Jahr hat in der Düsterdieker Niederung kein einziges Küken des Großen Brachvogels überlebt.“
Fuchs, du hast den Watvogel gestohlen…
Um dem Kükenschwund auf den Grund zu kommen, haben die Mitarbeiter der Biologischen Station bereits 2017 insgesamt 20 Wildtierkameras im Vogelschutzgebiet aufgestellt. Das Ergebnis: „Etwa 90 Prozent der Küken wurden von Füchsen gefressen“, bilanziert die Biologin. Zurzeit untersuche eine Studentin – in enger Zusammenarbeit mit der Jägerschaft – das Treiben in der Niederung, unterstreicht Wilhelm den dringenden Handlungsbedarf. Möglicherweise muss, wer die Bodenbrüter langfristig schützen will, den Beutegreifern entschlossen an den Kragen gehen.
Von Heimatfreunden und komischen Vögeln
Wird der Große Brachvogel jedoch nicht vom Fuchs erwischt und hat er dann auch noch das Glück, einen so passablen Lebensraum wie die Düsterdieker Niederung zu finden, kann er ein Alter von bis zu 32 Jahren erreichen. Nachdenklich lasse ich meinen Blick über das Meer aus grünen Halmen schweifen: Angesichts solcher Zeitspannen dürfte der eine oder andere Schnabelträger, der hier im schützenswerten Grünland nach Nahrung stochert, ja wohl deutlich mehr Ortskenntnis besitzen als ich selbst – und sich im Piepston der Überzeugung und völlig zu recht einen wasch- und feuchtwiesenechten Westfalen nennen.
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 09.05.2018)