Doch der Weg zu einem gelungenen musikalischen Auftritt ist mühsamer und arbeitsintensiver, als es sich wohl manch einer träumen lässt. Im Velper Martin-Niemöller-Haus, wo sich der Projektchor für die Aufführung der „Missa Katharina“ zu seinen Proben trifft, beginnt jede Etappe auf dem langen Weg zur Perfektion nicht mit einem Schritt, sondern mit dem Geschrömmel von rund 480 Stuhlbeinen, die jaulend und knarzend über das Parkett schleifen.
Nach und nach sortiert sich das Chaos
Der Herbert sitzt sehr zufrieden mitten im Bass. Obwohl er doch Tenor ist. Marianne kommt ein paar Minuten zu spät. Aber in weiser Voraussicht hat man ihr einen Platz frei gehalten. In der hinteren Reihe des heillos überfüllten Saals. Es ist ein Gerücke und Geraschel, ein Gequetschte und Gequatsche und Gekicher. Unter der geduldigen Federführung von Chorleiter Heinz Berge sortiert sich das Chaos jedoch nach und nach zu einem Chor. Und selbst der Herbert rutscht – zwar begleitet vom protestierenden Gebrummel der Bassstimmen, deren Besitzer ihn nur ungern ziehen lassen – hinüber in die hochfrequenteren Gefilde des Tenors.
Da hat er sich ja einiges vorgenommen, der Herr Berge. Als er vor einiger Zeit im Urlaub am Bodensee weilte, habe er, mehr oder weniger aus purem Zufall, sagt er, ein recht imposantes Konzert besucht. Gegeben wurde die „Missa Katharina“ – ein Werk für Chor, Sopran-Solo und symphonisches Blasorchester, komponiert von dem niederländischen Musiker Jacob de Haan im Jahre 2007 als Auftragsarbeit. Die „Missa Katharina“ stelle eine „inhaltlich gehaltvolle, aber technisch meisterbare Messe von ökumenischem Charakter“ dar, heißt es in der Online-Erläuterung des Komponisten.
„Das schaffen wir auch“, dachte sich Heinz Berge, der große Stücke hält auf das musikalische Können seiner Velper Schützlinge. „Mir war allerdings sofort klar, dass der Velper Chor für so ein gewaltiges Vorhaben auf jeden Fall Verstärkung braucht.“ Diese suchte und fand Berge bei seinem Kollegen Wolfgang Lange, Leiter des Riesenbecker Chors „Cantate 97“, und dessen Sängern. Für den Solopart gewann er die Sopranistin Katja Rothfuss. Als symphonisches Blasorchester wird der „Musikverein Glückauf Anthrazit Ibbenbüren“ mit seinen gut 35 Akteuren die Truppe unterstützen.
Flöhe hüten ist nicht wirklich schwieriger…
Insgesamt rund 120 Sängerinnen und Sänger. Darunter viele altgediente Stimmen aus den hiesigen Chören aus Velpe und Riesenbeck. Der katholische Kirchenchor aus Westerkappeln ist ebenfalls mit an Bord. Aber auch Einzelpersonen aus Nachbargemeinden, aus Ibbenbüren, Laggenbeck und Hörstel und sogar aus Rheine. Einige von ihnen haben noch nie in einem Chor gesungen. Erst recht nicht in einem so eindrucksvoll großen. Und einem so überaus lebhaften noch dazu. Flöhe hüten kann kaum schwieriger sein – die singen zumindest nicht.
„Nicht immer vom Sopran irre machen lassen!“
„Wo bleibt der Alt?“ Heinz Berge wirbelt fordernd und mit ausladender Geste seiner Dirigentenarme vor den nun beim „Credo“ doch etwas ins Schludern geratenden Sängerinnen herum. „Ihr sollt euch nicht immer vom Sopran irre machen lassen!“ Der so getadelte Alt zögert und verstummt prompt vollends. Halb verunsichert, halb betreten. Heinz Berge senkt die Arme. Sein Kollege Wolfgang Lange blickt vom Klavier auf und schmunzelt milde. „Also ich fand‘ s gar nicht so schlecht“, schickt er eine tröstende Woge verbaler Streicheleinheiten zu den leicht bedröppelt dreinblickenden Sängerinnen. „Nochmal!“, ruft Berge. „Ich weiß, dass ihr das könnt.“
Und der Bass? – Ach, der Bass…!
Eine halbe Stunde später hat der Chorleiter den wollenen Pullover abgestreift und steht im Oberhemd vor seinen Leuten. Mit geröteten Wangen. Längst hat außer dem Alt auch jede andere Stimme vom Chef ihr Fett wegbekommen – in liebevoller Strenge, versteht sich: der Sopran zu laut, der Tenor zwei volle Töne zu hoch und der Bass – ach, der Bass! „Habt ihr eigentlich gemerkt, dass die anderen schon fertig sind mit Singen?“, fragt Heinz Berge und kann ein amüsiertes Glucksen nicht länger unterdrücken.
Die Stimmen mit Salbeitee ölen
Die Stimmung steigt. In jeder Hinsicht. Es wird geflachst und schwadroniert – und je unbeschwerter der Umgang, desto treffsicherer sitzen mit einem Mal die Töne. Berge und Lange wechseln zufriedene Blicke. Der Alt nimmt die Klippen von Schnappatmung und lateinischem Gesang mittlerweile ebenfalls mit Humor. Der Sopran ölt seine Stimmen mit stillem Wasser und Salbeitee. Während sich zur Pflege der tieferen Bassstimmen ein wenig kühler Hopfen empfiehlt. Der Tenor schaut geschlossen irritiert ins Notenwerk: „Auf welcher Seite sind wir eigentlich?“
Heinz Berge macht jetzt erst mal Pause. Er legt sich den Wollpulli um die Schultern und schlendert grinsend zu den Sängerinnen und Sängern hinüber. Beklopft aufmunternd Schultern. Beantwortet Fragen. Hört zu. Ja, einige musikalische Höhenmeter gilt es wohl bis zum avisierten Ziel noch zu bewältigen. Aber: „Wir kriegen das schon hin“, lässt der Chorleiter gar keinen Zweifel daran, dass sich hier längst alle Beteiligten ein gutes Stück weit auf dem Weg zur vollkommenen vierstimmigen Velper Harmonie befinden.
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 23.12.2013)