Als Vertreterin des geschriebenen Wortes bin ich eher der ruhige Typ und halte mich, wenn es um exponierte Äußerungen vor größerem Publikum geht, in der Regel zurück. Doch die eigene Stimme zu erheben, lässt sich trainieren – und wie so Vieles, zu dem sich der Mensch erst überwinden muss, gelingen solche Veränderungen am leichtesten, wenn sie einem Freude bereiten. Als ich vom Schnupperprojekt des evangelischen Kirchenchors Lotte höre, wage ich einen Selbstversuch.
Sopran oder Alt? Tenor oder Bass?
Das Experiment beginnt: Im Saal des Gemeindehauses sortieren sich die festen Chormitglieder und einige wenige Schnupperwillige ihren jeweiligen Stimmlagen gemäß in die Sitzreihen ein: Ganz links nimmt der Sopran Platz, daneben formieren sich Tenor und Bass, rechts außen bezieht der Alt musikalisch Stellung. Und ich? Ich trete verlegen auf der Stelle. Als Kind habe ich Sopranflöte gespielt – ahne jedoch, dass mir das bei der Findung meiner akustischen Identität nicht ernsthaft weiterhelfen wird. Chorleiterin Annette Salomo bemerkt meine Ratlosigkeit und liefert die Lösung in Form eines Gesprächs. Wir unterhalten uns darüber, was das Jahr 2015 für die evangelische Kirchengemeinde Lotte bedeutet: Das Kirchengebäude steht seit stolzen 750 Jahren, den Kirchenchor gibt es seit 80 und den Posaunenchor seit 50 Jahren. Ich bin ausführlich beeindruckt ob der vielen Nullen – und Annette Salomo befindet: „Dem Klang Ihrer Sprechstimme nach zu urteilen, sind Sie eindeutig ein Alt.“ Ab nach rechts.
Von „Mo, mo, mo“ bis „Jam, ja, jam“
Das Experiment nimmt seinen Lauf: Aufstehen – Recken – Strecken – lauthals Gähnen. „Der ganze Körper soll sich beim Singen wohlfühlen“, erklärt Annette Salomo und unterzieht die eigenen Arme und Beine einer auflockernden Klopfmassage. Während alle anderen munter die Beine schwenken und die Halsmuskulatur dehnen, bin ich noch immer ausgiebig mit Gähnen beschäftigt. Ich wusste gar nicht, wie rundum behaglich und zufrieden sich so eine Chormitgliedschaft anfühlt. Beim Warmsingen – „Mo, mo, mo. Lu, lu, lu. Jam, jam, jam!“ – halte ich zwar tapfer mit, aber als Annette Salomo schließlich die Partituren verteilt und mein Blick auf vollgepackte, sich übereinander türmende Notenlinien fällt, wird mir doch mulmig zumute: „Dietrich Buxtehude – Alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken“. Angesichts des opulenten Jubiläumsjahres will sich der Kirchenchor Lotte schließlich angemessen präsentieren und zeigen, was er kann.
Das Autoradio wird überflüssig
Während für die Sängerinnen und Sänger das Experiment ihres Schnupperprojekts noch weitere vier Proben fortdauern wird und in der Aufführung der Buxtehude-Kantate – vierstimmig und mit Streichensemble – am 20. September 2015 im Rahmen eines Festgottesdienstes gipfelt, erkläre ich meinen persönlichen Selbstversuch für beendet. Auf der Rückfahrt fällt mir erst nach etlichen Kilometern auf, dass ich ganz vergessen habe, das Autoradio einzuschalten. Für das mitreißende Geschepper „Alles, was ihr tut…“ bin ich tatsächlich ganz alleine verantwortlich, ziehe ich amüsiert ein von unerwarteter musikalischer Nachhaltigkeit geprägtes Fazit.
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 2015)