Vorsichtig lenke ich meinen Wagen durch das geöffnete Metalltor auf den Parkplatz der Flüchtlingshilfe Lotte an der Teichstraße 2b in Wersen. Die flache Schwelle, die das starre Schiebetor freigibt, wenn es sich jeden Freitag von 14 bis 17 Uhr öffnet, scheint für viele Lotter noch immer unüberwindbar zu sein. „Wir haben schon mehrere Senioren im Bekanntenkreis angesprochen“, erzählt Beate Hindersmann-Noack von der Flüchtlingshilfe Lotte und zuckt etwas ratlos mit den Schultern, „aber bisher ist noch keiner gekommen.“ Dabei könnte Werkstattleiter Heinz-Hermann Schwermann, gelernter Zweirad- und Kfz-Mechaniker im Ruhestand, gut etwas Unterstützung gebrauchen.
Beim Schrauben miteinander ins Gespräch kommen
„Die Flüchtlinge fallen als Helfer mittlerweile nämlich völlig weg“, erklärt mir Beate Hindersmann-Noack und nickt dabei – zu meiner Verblüffung – sehr zufrieden. Ich bin verwirrt: Bestand denn die ursprüngliche Absicht der vor zwei Jahren gegründeten Fahrradwerkstatt, außer den Flüchtlingen ein kostengünstiges Verkehrsmittel zur Verfügung zu stellen, nicht gerade auch in der Integration? Im gemeinsamen Tun? Flüchtlinge und Alteingesessene, die zusammen schrauben, reparieren – und dabei miteinander ins Gespräch kommen?
Die ehrenamtliche Flüchtlingshelferin quittiert meine Verwirrung mit einem amüsierten Lächeln und verweist auf eine durchweg erfreuliche Entwicklung: Dass dem Verein just diese Helfergruppe ausgehe, sei nämlich keineswegs mangelndes Interesse seitens der Flüchtlinge, sondern vielmehr deren erfolgreiche Integration, freut sich Hindersmann-Noack. Viele der Erwachsenen hätten inzwischen eine Arbeit gefunden, andere erhielten wochentags ihre Schulungen – „und die Kinder und Jugendlichen, die sonst gerne in der Werkstatt geholfen haben, sind mittlerweile in den Sportvereinen aktiv.“
Vielleicht ist es die eher abweisende Ausstrahlung der nach außen hin so nüchtern gestalteten Gewerbehalle – das kühle Weiß ihrer Wände, das große, geschlossene Rolltor der ehemaligen Kfz-Werkstatt und die Unkenntnis des Neuankömmlings, was ihn da drinnen eigentlich erwartet – die manchem Besucher das Betreten erschweren. Auch ich fühle mich nicht besonders willkommen, als ich die fensterlose Metalltür öffne, und ziehe meine dicke Winterjacke etwas enger um die Schultern. Ist bestimmt ganz schön kalt in so einem großen Gebäude, wo doch draußen derzeit sogar Minustemperaturen herrschen, vermute ich. Mit einem entsprechend mulmigen Gefühl trete ich ein – und finde mich inmitten einer Kulisse wieder, die gemütlicher und herzerwärmender kaum sein könnte.
Erstmal die Winterjacke ausziehen…
Was mich verblüfft? Vieles! Als erstes ziehe ich die Jacke wieder aus, denn eine Heizung sorgt dafür, dass es muckelig warm ist. Vor der Werkstatt, die in einem eigenen, abgetrennten Raum untergebracht ist, hat das Helferteam eine Art offenes Café eingerichtet: eine einladende Sitzecke samt Ecksofa und Couchtisch, auf dem diverse Schüsselchen mit Süßigkeiten und Gebäck drapiert sind. Weil die Halle dem Verein zugleich als Möbellager dient, strahlt auch die weitere Umgebung mit ihren Stühlen und Sesseln, Schränken und Kommoden wohnliche Behaglichkeit aus. Das emsige Treiben und die munteren Plaudereien, die sich zwischen Kaffeemaschine und Kompressor abspielen, sorgen dafür, dass auch meine letzte Unsicherheit verfliegt.
„Auch wenn fast alle Flüchtlinge inzwischen ein Fahrrad bekommen haben und sich die Situation deutlich entspannt hat“, erzählt mir Werkstattchef Heinz-Hermann Schwermann, „bleibt mit den anfallenden Reparaturarbeiten doch genug für uns zu tun.“ Schließlich sollen die Räder nicht nur verkehrstüchtig, sondern vor allem auch in einem technisch einwandfreien Zustand sein – und bleiben. „Außerdem ist dieser Ort hier zu einem wichtigen sozialen Treffpunkt geworden“, ergänzt Beate Hindersmann-Noack. Und Abdullah Albode stimmt ihr mit energischem Nicken zu. Er hat sein Fahrrad mitgebracht, weil mit dem Ventil irgendetwas nicht zu stimmen scheint. Kein Problem für Heinz-Hermann Schwermann, zumal ihm sein Kollege Günter Sturm an diesem Nachmittag zur Hand geht. Doch der Wersener hat sowohl Familie als auch einen Beruf – und folglich an manchen Freitagen schlichtweg etwas anderes zu tun. „Wer uns in der Fahrradwerkstatt unterstützen möchte, braucht sich nicht verpflichtet zu fühlen, hier jeden Freitag zu erscheinen“, betont Hindersmann-Noack. Wann und wie oft jemand helfen wolle, bestimme derjenige selbst. „Und Vorkenntnisse braucht hier auch keiner mitzubringen“, wirft Günter Sturm ein, „Heinz-Hermann ist ein erstklassiger Fachmann, der einem alles erklärt.“
Warum die Räder in Wersen mitwachsen
Während sich Beate Hindersmann-Noack mit Mustafa Alblahawi über eine Einladung zu einem Kochabend der Flüchtlingshilfe unterhält, Elsbeth Schwertmann das Geld für den neuen Dynamo von Onik Islam kassiert und Günter Sturm eifrig mit Heinz-Hermann Schwermann inmitten von geflickten Schläuchen und geschmierten Ketten herumhantiert, öffnet sich die Metalltür neuerlich: Hereinkommen der achtjährige Hariz und sein Vater. Hariz grinst über das ganze Gesicht und schiebt ein kleines Rad vor sich her. „Na, bist du so gewachsen, dass du dein altes Fahrrad abgeben und dir ein neues aussuchen kannst?“, fragt Elsbeth Schwermann – und der Junge grinst voller Vorfreude.
Als ich mich – viele herzliche Gespräche später, aufgewärmt und entspannt – vom Team der Fahrradwerkstatt verabschiede und meinen Wagen über die sanfte Aufpflasterung in der Zufahrt steuere, bin ich um eine wichtige Erkenntnis reicher: Wer öfter mal über den eigenen Schatten springt, landet manchmal an überraschend freundlichen Orten.
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 14.02.2018)