Aus der Bedrängnis heraus – Selbstverteidigung für Frauen

In die Enge getrieben: Dummy Bob und Trainer Philip Tietze rücken Kursteilnehmerin Michaela zuleibe. Doch die hat gelernt, sich gegen die Bedrängung zu wehren. Foto: Ulrike Havermeyer

Wenn er nicht gerade im Selbstverteidigungskurs für Frauen den Bösewicht gibt, ist Philip Tietze ein richtig sympathischer Typ. Hier aber rückt er mir so dicht auf die Pelle, dass ich ihn ziemlich brüsk zur Seite schiebe. „Meinst du, das hält mich ab?“, fragt er mit fiesem Grinsen und kommt näher…

Obwohl die Turnhalle der Sportfreunde Lotte ein geschützter Ort ist und die Bedrohung durch Fitnesstrainer Philip Tietze natürlich nur simuliert, wird mir mehr als mulmig. Zwar bin auch ich schon in unangenehme Situationen geraten, aber die rohe Aggressivität, die aus jedem Wort, jedem Blick, jeder Bewegung meines Gegenübers trieft, und die Wucht, mit der er mich schubst und gegen die Wand zu drücken versucht – das lässt Panik in mir aufsteigen. Wie soll ich mich wehren? Wie komme ich hier heil wieder raus?

Vereinszugehörigkeit keine Voraussetzung

„Mit unserem Kurs Selbstverteidigung für Frauen betreten wir Neuland“, erklärt Sportfreunde-Jugendwart Heinz Budke. Der besondere Charme des Angebots: Es richtet sich an Frauen jeden Alters, ausdrücklich auch an Nichtmitglieder – und die Teilnahme ist dank der Unterstützung durch die Kreissparkasse Lotte kostenlos. Noch an den kommenden elf Donnerstagen, jeweils von 18 bis 19 Uhr, verwandelt sich Familienvater Philip Tietze in der Halle der Sportfreunde Lotte in einen gewaltbereiten Radaubruder und rückt mit seinen zielgerichteten Pöbeleien den Teilnehmerinnen zuleibe. Auf dem Übungsplan stehen neben effektiven Selbstverteidigungspraktiken auch nützliche Deeskalationsstrategien. Wer mitmachen möchte, könne ohne Anmeldung dazukommen, erklärt Tietze, nur keine Umstände: „Keep it simple – halte es einfach“, lautet die Devise des 35-Jährigen.

Die eigene Unsicherheit überwinden

Noch wirken die meisten von uns eher eingeschüchtert. Gut 15 Frauen und Mädchen – die Jüngste gerademal zwölf, die Älteste über 50 Jahre – bilden einen Halbkreis um Trainer Tietze, hier und da ist ein nervöses Kichern zu hören: klare Symptome weiblicher Unsicherheit. Kein Wunder, denn dass ein fremder Kerl, wenn auch nur zu Übungszwecken und auf Ansage, auf eine von uns losgeht, dürfte hoffentlich für jede hier eine völlig neue Erfahrung sein. „Wenn ihr nicht auf mich zukommt, dann komme ich auf euch zu“, fackelt Philip Tietze nicht lange und lässt der Gefahr freien Lauf: „Ab wann empfindet ihr mich als Bedrohung?“

Am liebsten Reißaus nehmen

Hätte er mich nicht so freundlich begrüßt und stünden hier nicht berufliche Verpflichtungen auf dem Spiel – ich würde am liebsten Reißaus nehmen, als Philip Tietze mit finsterem Blick, die Hände zu Fäusten geballt, durch die Halle patrouilliert. Sein ganzer Körper signalisiert, dass er jederzeit bereit ist, größtmögliches Unheil anzurichten. Manchmal schreit er aufgebracht los – dann läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Bleibt er unvermittelt vor – oder noch viel schlimmer: hinter mir stehen, wird es unerträglich: Was soll ich tun?

 Immer wissen, wo sich der Ausgang befindet

„Ihr Frauen seid viel stärker, als ihr glaubt – und ihr entscheidet, ab wann ich zu nah dran bin“, gibt sich unser Trainer, sobald er die Rolle des Schurken abgelegt hat, sogleich als aufrechter Verfechter weiblicher Unantastbarkeit zu erkennen. Okay – ich bleibe. Zumal ich nach so viel körperlichem Unbehagen nun auch wissen will, wie ich mich gegen einen potenziellen Angreifer zur Wehr setze. Erste Lektion: Frauen sollten sich, wenn sie in heikle Situationen geraten oder sich an zwielichtigen Orten aufhalten, zunächst vergewissern, wo sich der Ausgang befindet. „Denn das ist immer euer Ziel: der Ausgang“, schärft Tietze uns ein. Den Angreifer durch einen beherzten Schrei oder einen künstlichen Alarm, durch eine unerwartete Bewegung, einen gezielten Schlag verwirren, im optimalen Fall kurzzeitig außer Gefecht setzen  – und ab geht’s, nur raus aus der Situation, weit weg – und das blitzschnell!

„Stress macht nicht schlauer“

Doch eines stellt Tietze gleich klar: „Den links eingesprungenen Roundhouse-Kick lernt ihr bei mir nicht“, auch wenn das eine der wirkungsvollsten Techniken im Kampfsport sei. Denn der exakte Ablauf eines jeden Moves, jeden Tritts, jeden Schlags müsse tausendfach trainiert werden, bevor er ohne Nachzudenken abgerufen und eingesetzt werden könne. Wer aber unvermittelt in Gefahr gerät, ist auf automatisierte Bewegungsmuster angewiesen, die selbst bei größtem Schrecken noch sicher funktionieren. „Stress macht nicht schlauer“, gibt der Neu-Lotteraner zu bedenken – und schwört mithin auch bei der Selbstverteidigung auf seinen bewährten Grundsatz: „Keep it simple.“

Schreien, schubsen, treten

Denn treten, schubsen, laut schreien – das kann jede, das haben die meisten Mädchen in Kindertagen ausgiebig praktiziert. All diese verpönten Verhaltensweisen, die einem im Laufe der Erziehung und des Erwachsenwerdens so oft abhanden kommen. Nun gilt es also, die ganzen verbotenen Unartigkeiten wieder zutage zu fördern, um sie im Notfall gezielt und hemmungslos anzuwenden. Das hat, ich gebe es unumwunden zu, durchaus etwas Therapeutisches: Den widerlichen Typen, der mir jovial auf die Schulter klopft und mir dann anzüglich seinen Arm um die Hüfte legt, einfach mal laut anfauchen: „Stopp! Ich will das nicht!“, geht einer ungeübten, leidlich kultivierten und somit halbwegs gezähmten Frau nämlich nicht eben leicht über die Lippen. „Meinst du wirklich, das hält mich ab?“, fragt Philip Tietze denn auch neuerlich und setzt ein öliges Lächeln auf. Ja, ich glaube, dieses Mal schon, denke ich, lege ein wütend gebrülltes „STOPP! HAU AB!!!“ nach – und schlage zu.

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 17.01.2018)