Die Zukunft des Schachsports oder: Wo sind die Mädchen?

Jeder Zug will gut geplant sein: Während Simon (links) noch überlegt, wagen Kyell und Gareth unter den Blicken von Rudolf Hohenberger und Kai Lorenz schon den nächsten Angriff. Fotos (3): Ulrike Havermeyer

Es liegt Ehrgeiz in der Luft, als der Schachclub SC 59 Westerkappeln zum Schnupperkurs einlädt. Sechs Jungen zwischen sieben und 14 Jahren lauern mit blitzenden Augen vor den Brettern und fixieren ihr Gegenüber. Ich wundere mich. Wo sind die Mädchen?

Kai Lorenz seufzt. Irgendwie scheint er sich dieselbe Frage zu stellen. Gemeinsam mit dem Vereinsvorsitzenden Rudolf Hohenberger hat der gebürtige Osnabrücker das Schnuppertraining organisiert, das der SC 59 auch noch an den kommenden Freitagen von 16.30 bis 18 Uhr anbietet. Gespielt wird in den Räumen des Heimatvereins, gleich neben dem Eingang zum Freibad. Ziel des unverbindlichen Schnupperangebots ist es, Mädchen und Jungen für das Schachspiel zu begeistern. Vielleicht gelinge es dem Verein dadurch sogar, eine neue Jugendmannschaft zu gründen, hofft Rudolf Hohenberger, die dann irgendwann auch an Turnieren teilnehmen werde.

Wie das Entstehen eines Gemäldes

Mit den sechs Jungen, die an diesem Nachmittag ihre Läufer, Springer und Türme wohlbedacht über das Brett führen, hat der SC 59 möglicherweise schon einen ersten Glücksgriff getan: Sie alle – Simon und Lewin (beide 7 Jahre), Gareth (8), Raul (10), Kjell (12) und Luka (14) – verfügen bereits über solide Vorkenntnisse und bringen ihre Steine gekonnt in Stellung. Weiße Dame, weißes Feld. Schwarze Dame, schwarzes Feld. Die Grundregeln, die besagen, wie sich die verschiedenen Figuren auf dem Spielfeld bewegen, sind überschaubar. „Die Faszination besteht darin, wie sich dieser schlichte Regelrahmen mit einer unglaublichen Vielfalt an möglichen Spielzügen füllen lässt“, beschreibt Kai Lorenz. „Man kann eine schöne Schachpartie mit dem Entstehen eines Gemäldes vergleichen“, schwärmt er, „nur mit dem Unterschied, dass beim Schach zwei Maler beteiligt sind.“

Beim Schach sind Geduld und Phantasie gefragt. Der siebenjährige Lewin verfügt über beides.

Konzentration statt Kampfgeschrei

Erst jetzt fällt mir das Ticken der Wanduhr auf, das einen beeindruckenden Kontrast zu der Stille bildet, die sich mit dem ersten Spielzug über die – eben noch einander vollmundig ihre Kampfesbereitschaft bekundenden – Kontrahenten gelegt hat. Gebannt verfolgt Kyell, wie Luka seine Dame in Stellung bringt, während Raul vorauszuahnen versucht, mit welchem Schachzug Lewin den König seines Gegners in Bedrängnis bringen will. Die Phase des Taktierens hat begonnen.

Vom Gewinnen und Verlieren

Spielen Männer anders als Frauen? Spätestens, wenn es ums Gewinnen oder Verlieren geht, scheint für einige Herren der Schöpfung der Spaß aufzuhören und aus einem – aus eher weiblicher Sicht – unbeschwertem Vergnügen wird eine ernste Sache. Treffe ich mich mit Freundinnen zum Spieleabend, lachen wir uns bei Kuhhandel, Cluedo oder Dixit regelmäßig schlapp. In der männerlastigen Doppelkopfrunde, der ich angehöre, herrscht dagegen stets angespannte Konzentration – und nach jeder Runde folgt unweigerlich die akribische und unerbittliche Analyse des Geschehens.

Wie entspannen Frauen?

„An der Grundschule Handarpe betreue ich seit einiger Zeit eine Schach-Gruppe“, sinniert Kai Lorenz, „in der sind auch Mädchen – und die spielen richtig gut!“ An der Tatsache, dass wir Frauen, ob jung oder alt – mit entsprechender Übung – einem männlichen Gegenüber im Schachsport in nichts nachstehen, dürfte wohl niemand einen Zweifel hegen. Die Frage ist eher, welche Art des Ausgleichs wir Frauen nach einem anstrengenden Arbeits- oder Schultag bevorzugen: Konzentration oder Zerstreuung? Schweigen oder reden? Sich dem Wettkampf aussetzen oder gemeinsam chillen?

 „Geduld, Neugierde und Phantasie“

Ein idealer Schachspieler, erklärt mir Kai Lorenz, zeichne sich vor allem durch drei Eigenschaften aus: „Geduld, Neugierde und Phantasie.“ Ja, viel weiblicher geht’s doch wohl gar nicht, oder? Und dennoch kommt Lorenz nicht umhin einzuräumen, dass das Geschlechterverhältnis auch bei den etwa 20 aktiven Erwachsenen des SC 59 nicht eben ausgewogen ist: Wenn sich die Westerkappelner Schachfreunde immer freitags um 20.15 Uhr treffen, „dann sind wir da auch nur Männer…“, gesteht er ein und hofft auf Veränderungen: Nicht nur jünger, sondern auch weiblicher soll sie aussehen, die Zukunft des Schachclubs.

An der Magnettafel im Vereinsheim können verschiedene Spielzüge veranschaulicht werden.

Schnupperstunde für Anfänger

Die erste Schnupperstunde beim SC 59 könnte zumindest eine der angestrebten Wenden eingeleitet haben: Lewin, Simon und Luka, Raul, Gareth und Kyell wollen nächste Woche auf jeden Fall wieder dabei sein und mehr über Springergabeln, Bauernopfer oder die Eröffnungsfalle lernen. Vielleicht besteht sogar die Chance, dass demnächst auch ein paar weibliche Spieler das Vereinsleben und die Spielkultur bereichern. Denn gefragt, wo er das Schachspielen gelernt habe, antwortet Raul mit unüberhörbarem Stolz: „In der Schule – und natürlich von Mama!“

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 10.01.18)