Alisa Prinz und Karin Lenze, die Gleichstellungsbeauftragten der Gemeinden Westerkappeln und Lotte, haben einen Erste-Hilfe-Kompaktkurs organisiert. Nur für Frauen. Den Teilnehmerinnen bietet er die Gelegenheit, ihr Wissen über Soforthilfemaßnahmen aufzufrischen. Außerdem wollen Lenze und Prinz noch immer lästigen Vorurteilen über weibliche Hilflosigkeit im Straßenverkehr entgegen treten. Wie rund ein Dutzend andere Frauen habe auch ich mich angemeldet.
Geschlechterspezifische Kompetenzen?
Ja, ja – von wegen: Frauen und Technik. Frauen und Kfz. Frauen und überhaupt! Da überprüfe ich doch gleich mal vor Ort, wie es in der eigenen Familie um die vermeintlich geschlechterspezifischen Kompetenzen bestellt ist – und lasse mich bequem auf den heimischen Wohnzimmerteppich sinken. Natürlich bedarf es einmal mehr der zielgerichteten Ansprache, um meinen Mann – der irritiert von seinem Tablet aufschaut, zu meinem Retter werden zu lassen.
Eine Frau geht zu Boden
Immer zuerst die W-Fragen beantworten, wenn es darum geht, einen Unfall zu beschreiben, hat Udo Schurgott, Ausbilder beim Ortsverein des Deutschen Roten Kreuzes in Westerkappeln und Leiter der Veranstaltung, uns eingeschärft. Wer? Wo? Was? Wann? Wie? Kurz, knapp und präzise. Also röchel ich tapfer alle notwendigen Infos über den haarigen Schädel unseres Labradors hinweg, der mich begeistert in seiner Welt unterhalb der Tischkante begrüßt: „Keine zwei Meter entfernt liegt eine Frau im besten Alter reglos auf dem Fußboden. Keine offenen Wunden, keine sichtbaren Verletzungen. Atmung und Puls schwach, aber stabil.“
Ein schlappes innerfamiliäres Unentschieden
Um es kurz zu machen: Mein Mann, Führerscheinzulassung 1978, letzter Erste-Hilfe-Kurs 2002, kriegt die stabile Seitenlage auch nicht auf Anhieb hin. Das innerfamiliäre „Unentschieden“ ist so schlapp wie ernüchternd, aber womöglich einigermaßen repräsentativ, zumindest was den Stellenwert von souverän abrufbaren Soforthilfemaßnahmen im eigenen Bekanntenkreis angeht.
Der Fehler: So vieles andere scheint dringender
Neben mir im Großen Saal des Westerkappelner Rathauses sitzt Stefanie aus Lotte und beobachtet aufmerksam, wie Udo Schurgott das rechte Bein von Nadine aus Recke anwinkelt, ihren linken Arm positioniert und ihren schlaffen Körper behutsam auf die Seite zieht. „Wir alle hier sind fast jeden Tag auf der Straße unterwegs“, sagt Stefanie und schüttelt den Kopf wie jemand, der sich gerade selbst ertappt hat, „aber seit ich den Führerschein gemacht habe, habe ich meine Erste-Hilfe-Kenntnisse nicht mehr aufgefrischt.“ Das schlechte Gewissen steht ihr ins Gesicht geschrieben. „Man weiß, wie wichtig das alles ist – aber irgendwie scheint dann doch immer etwas anderes dringender zu sein.“ Dass die Bundesarbeitsgemeinschaft Erste Hilfe seit beinahe zehn Jahren eine „neue stabile Seitenlage“ empfiehlt, ist an uns beiden schlichtweg vorbei gegangen.
Was heißt eigentlich „regelmäßig“?
Doch egal, ob hier nun weibliche oder männliche Hilflosigkeit überwunden werden muss – im Ernstfall die richtigen Handgriffe anwenden kann nur, wer sich regelmäßig mit der Problematik beschäftigt und übt. Aber was heißt „regelmäßig“? – Um Genaueres zu erfahren, rufe ich bei Reiner Schöttler von der Kreispolizeibehörde Steinfurt an: „Der eine vergisst nach drei Jahren, der andere erst nach fünf“, sagt der Pressesprecher. „Das ist alles sehr individuell.“ Eine Empfehlung könne die Polizei daher nicht geben. Entscheidend ist aus Schöttlers Sicht: „Jeder sollte so fit in diesem Thema sein, dass er jederzeit Erste Hilfe leisten kann.“
„Ach, du lieber Himmel: der Verbandskasten!“
Die neue stabile Seitenlage haben Stefanie und wir anderen mittlerweile verinnerlicht. Jetzt erklärt uns Udo Schurgott, wie der Notfallhelfer einen Verunglückten effektiv beatmet. Auch auf diesem Gebiet hat sich in den letzten Jahren einiges verändert: „In ihrer Apotheke bekommen Sie diese sehr praktische Einweg-Maske“, erklärt der Rettungssanitäter und präsentiert das hygienische Utensil, das in jede Handtasche passt. Er weist uns auf die stets anzuziehende Warnweste hin und auf das Tragen von Handschuhen: „Die dürfen in keinem Verbandskasten fehlen.“ – „Ach du lieber Himmel: der Verbandskasten“, raunt Bruni aus Hasbergen zwei Stühle weiter. „Ich wollte schon seit Monaten nachgucken, ob der nicht schon abgelaufen ist.“ Udo Schurgott nickt ernst in die Runde: „Sehen Sie: Gut, dass Sie sich auf das Thema eingelassen und auf den Weg gemacht haben.“
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 29.04.2015; Westfälische Nachrichten, 29.04.2015)