Sein massiger Körper liegt ausgestreckt vor dem Sofa. Zuverlässig muss er sein. Nur ab und zu bewegt sich eine seiner Pfoten, als ob er träumend über ein Feld galoppiert. Absolut stressfest. Hoch motiviert und stets bei der Sache. Sein Ohr zuckt, er hebt kaum merklich den Kopf, hält kurz inne – und gleitet gleich darauf genussvoll seufzend in die Entspannung zurück. Ein Diabetikerwarnhund ist ein potenzieller Lebensretter. Nicht nur dank seines besonders feinen Näschens, sondern vor allem wegen seiner ausgeprägten Charakterfestigkeit: An der Zusammensetzung von Schweiß und Atem seines Menschen erschnüffelt der Begleithund, wann sich dessen Blutzuckerspiegel in den kritischen Bereich verschiebt. Dann gibt er solange keine Ruhe, bis Herrchen oder Frauchen zur Insulinspritze oder zum Kontrollgerät greift. Eine große Verantwortung, die der Vierbeiner da trägt. Ob Elmo ahnt, was bei seinem Job auf dem Spiel steht?
„Elmo ist ein Glücksgriff, ein absoluter Volltreffer“
Karina Horstmann beugt sich zu ihrem fünfjährigen Labradorrüden herunter und tätschelt ihm den Kopf. Die 25-jährige Diabetikerin aus Westerkappeln hegt keinerlei Zweifel an der Antwort auf diese Frage. „Elmo war ein absoluter Glücksgriff“, sagt sie: „Ein Volltreffer.“ Unter dem Couchtisch beginnt eine schokobraune Labradorrute ungestüm auf den Teppich einzuklopfen. So viel Lob lässt auch den gelassensten Diabetikerwarnhund nicht kalt. Dabei ist Elmos Werdegang vom tapsigen Welpen bis zum souveränen Begleiter kein typischer – und alles andere als geradeaus verlaufen.
Zu alt? Zu verspielt?
Als das Team vom Assistenzhunde-Zentrum Osterode, das sich um die Zucht, Ausbildung und Prüfung von Blindenführ- und Diabetikerwarnhunden kümmert, den knapp drei Jahre zuvor von ihm vermittelten Rüden neuerlich begutachtete, um darüber zu entscheiden, ob der – eigentlich für eine solche Ausbildung inzwischen schon viel zu alte – Vierbeiner noch immer das Zeug zum Assistenzhund habe, fiel das Urteil mehr als verhalten aus: „Das wird ganz schwer“, wiegelten die Fachleute ab. Karina Horstmann schüttelt amüsiert den Kopf, wenn sie sich daran erinnert, wie ausgelassen ihr Hund um das skeptische Gremium herum getanzt sei. „Er war sehr fasziniert von der ganzen Situation“, erzählt sie: „So ein richtig liebenswerter, braver und total verrückter Labrador.“ Elmo richtet sich zu voller Größe auf, lässt seine schlabbrige rosa Zunge zum Lüften heraus klappen – und scheint selbstbewusst zu lächeln. Als wisse er mindestens so genau wie sein Frauchen, was für Qualitäten in ihm stecken.
Elmo zeigt es den Richtern
„Wir versuchen es trotzdem“, hat Karina Horstmann den Trainern aus Osterode geantwortet. Und dank der engen Zusammenarbeit mit dem Assistenzhunde-Zentrum, dank einer Menge Fleiß – und vielleicht vor allem dank der Tatsache, dass Elmo und sein Frauchen schon damals so ein eingespieltes Team waren, hat der schokobraune Labrador ein halbes Jahr später die Prüfung zum Diabetikerwarnhund abgelegt. „Mit dem drittbesten Ergebnis, das die Osteroder Wertungsrichter bis dahin bei einem Assistenzhund getestet hatten“, fügt Karina Horstmann nicht ohne Stolz hinzu.
Früher: Messen im Zwei-Stunden-Takt
Im Alter von 15 Jahren erfuhr Karina Horstmann, dass sie an einer Typ-1-Diabetis erkrankt war: jener Form der Stoffwechselstörung, die zur Folge hat, dass der Körper kein eigenes Insulin mehr produzieren und somit den Gehalt des Zuckers im Blut nicht mehr selber steuern kann. Wird dieser Mangel nicht durch Hormongaben von außen ausgeglichen, besteht die Gefahr, dass der Patient kollabiert oder schlimmstenfalls sogar in ein lebensgefährliches Koma fällt. „Bei mir kam dann auch noch eine Hypo-Wahrnehmungsstörung dazu“, ergänzt die Mettenerin. Soll heißen: In der Regel spürt ein Diabetiker durch Zittern, Schweißausbrüche oder Konzentrationsstörungen, wenn sein Blutzuckerspiegel in den gefährlichen Bereich steigt oder absinkt. „Mein Körper zeigt aber keines dieser Symptome“, sagt die junge Frau. Die Konsequenz: Alle ein bis zwei Stunden muss sie mit dem Glukose-Messgerät kontrollieren, wie es um die Zusammensetzung ihres Blutes bestellt ist. Auch in der Nacht.
„Besonders menschenbezogen und extrem sensibel“
Ihre Mutter habe schließlich davon erfahren, berichtet Karina Horstmann, dass in den USA speziell ausgebildete Diabetikerwarnhunde eingesetzt würden, um den Betroffenen ihren Alltag zu erleichtern. Die Horstmanns recherchierten – und hatten kurze Zeit später den Kontakt zum Assistenzhunde-Zentrum Osterode hergestellt. Bald darauf betrat Elmo die Bühne. Nun ja – eigentlich robbte der niedliche Welpe eher ins Zentrum der Aufmerksamkeit, denn die „Phase eins“ des langen Wegs zum Assistenzhund beginnt bereits ein paar Stunden nach dessen Geburt: Ob ein Tier über die nötigen Qualitäten für seine spätere Aufgabe verfügt, können die Fachleute bereits jetzt erkennen. Patricia Merle vom Assistenzhunde-Zentrum Osterode erläutert: „Der Welpe muss aggressionslos, aufgeschlossen und absolut wesensfest sein.“ Die wenigen Tiere, die für eine Ausbildung zum Diabetikerwarnhund in Frage kämen, betont die Trainerin, gehörten allesamt „einem ganz speziellen Hundetypus an – besonders menschenbezogen und extrem sensibel.“
Einer von Tausend ist geeignet
Der kleine Elmo, das zeigten die ersten Tests, hatte ohne jede Frage Talent. Vier bis sieben Wochen nach der Geburt des Tieres zündet dann die eigentliche Eignungsfeststellung zum Diabetikerwarnhund: 45 unterschiedliche Untersuchungen führt das Assistenzhunde-Zentrum in dieser Zeit durch. Ist der Welpe dann ein halbes Jahr alt, werden weitere 60 Kriterien unter die Lupe genommen: Neben der erneuten Analyse des Charakters steht vor allem die Geruchssensibilität auf dem Prüfstand. „Diabetikerwarnhunde besitzen die angeborene Fähigkeit, Unter- und Überzuckerungen zu erkennen“, erklärt Patricia Merle. „Nur drei Prozent aller Hunde verfügen über diese Begabung“, berichtet sie, „und nur einer von tausend Welpen weist tatsächlich alle erforderlichen Eigenschaften auf.“
„Aufregende Orte“ trainieren
Auch hier schnitt der kleine Elmo äußerst zufriedenstellend ab – einer Karriere als Assistenzhund schien somit nichts im Wege zu stehen. Für Karina Horstmann stand von vornherein fest, dass sie die weitere Ausbildung ihres Vierbeiners selbst in die Hand nehmen würde – in enger Abstimmung mit den Fachleuten aus der Stadt im Harz. Nachdem der Welpe sich in Westerkappeln eingewöhnt hatte, ging es einmal in der Woche nach Osterode: Elmos Entwicklungsfortschritte wurden überprüft und Frauchen und Hund erhielten jedes Mal einen dezidierten Wochenplan, welche Aufgaben es zuhause zu erledigen galt. „In den ersten Monaten mussten wir dreimal täglich an besonders aufregende Orte gehen“, berichtet Karina Horstmann. „Denn es ist sehr wichtig, dass ein Assistenzhund sich durch nichts aus der Ruhe bringen lässt. Er muss seine Aufmerksamkeit – ganz egal wo er ist, und ganz egal, was gerade um ihn herum passiert – zu hundert Prozent auf seinen Menschen richten.“ Elmo und seine Besitzerin flanierten über Flughäfen und Bahnhöfe, erklommen Wendel- und Rolltreppen oder besuchten gemeinsam Jahrmärkte und Shoppingzentren. Alles entwickelte sich nach Plan.
Doch „bloß“ ein Familienhund?
Doch dann erkrankte Karina Horstmanns Mutter schwer – und die Familie musste ihre Prioritäten neu sortieren. „Es blieb einfach nicht genug Zeit, um Elmos Ausbildung ernsthaft weiter betreiben zu können“, sagt Karina Horstmann. Und so wäre der vielversprechende Labrador um ein Haar ein gutmütiger Familienhund geblieben. Aber eben nur um ein Haar. „Als meine Mutter verstarb, war Elmo knapp drei Jahre alt.“ Und Karina Horstmann hatte sich schon beinahe damit abgefunden, sich bis auf weiteres alle ein bis zwei Stunden von ihrem Wecker daran erinnern zu lassen, ihren Blutzuckerspiegel zu messen. Aber eben nur beinahe.
Ein Neuanfang für das routinierte Paar
Kurzentschlossen nahm die junge Groß- und Einzelhandelskauffrau sowohl den Kontakt zu den Osterodern wie auch das Training mit Elmo wieder auf. Sie hauchte ihren Atem in Reagenzgläser und konservierte dessen Geruch im Kühlschrank. Elmo lernte, die kritischen Konzentrationen zu erkennen und sein Frauchen mittels Anstupsen oder Bellen zu warnen. „Keine zwei Wochen später zeigte Elmo mir jede Unter- oder Überzuckerung zuverlässig an“, berichtet Karina Horstmann. „Deutlich früher übrigens, als mein Messgerät.“ Die abschließende Prüfung war eine reine Formalität für das routinierte Paar.
Eine Lektion in gelassener Pflichterfüllung
Elmo spitzt die Ohren, richtet seine bernsteinfarbenen Augen auf Karina Horstmann als ahnte er, dass sein Frauchen die spannende Geschichte über den äußerst gewissenhaften Diabetikerwarnhund, der er ist, nun zu Ende erzählt hat. Mit einem zutiefst befriedigten Brummen verschwindet er unter dem Couchtisch. Stets bereit, jeden, der gelassene Pflichterfüllung mit phlegmatischer Bequemlichkeit verwechselt, eines Besseren zu belehren.
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 2014; Westfälische Nachrichten, 2014)