Eine Reise in die Vergangenheit hat jetzt die französische Journalistin Nicole Jeanneton-Marino unternommen und sich auf Spurensuche auf den Hof Hanneken nach Gehrde begeben. Hier hat ihr Vater Robert von 1940 bis 1945 als Kriegsgefangener arbeiten müssen.
Als die kleine Nicole ihren Vater kennenlernte, war sie bereits sechs Jahre alt. Ein Schulkind. Die verlorenen Jahre einer Eltern-Kind-Beziehung hat Robert Marino im niedersächsischen Gehrde zubringen müssen – als Kriegsgefangener auf dem Hof Hanneken in Groß-Drehle. 299 Briefe hat Robert während dieser Zeit an seine Familie nach Paris geschickt. „Diese Schriftstücke arbeite ich gerade intensiv durch“, berichtet Nicole Jeanneton-Marino. Sie lächelt: „Es ist sehr berührend zu erfahren, wie mein Vater diese Jahre verbracht, was er empfunden hat und wie es ihm ergangen ist.“ Denn als er im Mai 1945 endlich zu seiner Familie zurückkehren durfte, abgemagert und geschwächt, hat Robert Marino eine klare Einstellung zum Thema Krieg vertreten: Er wollte das Alles hinter sich lassen. Keine unnötigen Worte über diese Zeit verlieren. Und so habe er es, bis auf wenige Ausnahmen, sein ganzes Leben lang gehalten, erklärt seine heute 77–jährige Tochter.
Ambitionierte Autorin
Robert Marino beschreibt in seinen Briefen nicht nur detailreich, wie er seine Jahre als Kriegsgefangener im Artland erlebt hat, sondern erzählt auch eindrucksvoll davon, wie schwer es für den jungen Familienvater war, die innig geliebte „Petite Nicou“, wie er seine Tochter zärtlich nannte, nicht aufwachsen sehen zu können. „Auf der Grundlage dieser Erinnerungen meines Vaters und den vielen Aufzeichnungen, die meine Mutter hinterlassen hat, arbeite ich an einem Buch darüber, wie meine Familie die Kriegsjahre und die Nachkriegszeit erlebt hat.“ Nicht das erste Werk der ausgebildeten Studienrätin, die auch als Journalistin für das französische Magazin Écoute tätig ist: Ihre Dokumentation über den Lebensabend ihrer Mutter im Altersheim hat der ambitionierten Autorin bereits eine Auszeichnung eingebracht.
Ernten, Melken, Ausmisten
Um sich einen eigenen Eindruck von der Kulisse zu machen, in der ihr Vater seine Kriegsgefangenschaft zugebracht hat, ist Nicole Jeanneton-Marino jetzt nach Gehrde gereist. Gemeinsam mit Liselotte Prima, Vorsitzende des Heimatvereins und Autorin des Buches „Groß Drehle“, hat sie den Hof Hanneken besucht. Den Ort, an dem Robert Marino viereinhalb Jahre lang Kühe melken, Stallungen ausmisten und die Ernte einfahren musste. „Das ist ihm nicht leicht gefallen“, erzählt seine Tochter, „denn während die beiden anderen Kriegsgefangenen auf dem Hof Hanneken, Baptiste und Clovis, selbst Landwirte gewesen sind, war mein Vater ein reiner Stadtmensch und hat vorher als Vertreter für Damenunterwäsche in Paris gearbeitet.“ Dennoch habe er die Jahre in Gehrde in guter Erinnerung behalten: „Er hat betont, dass die Leute hier sehr nett waren“, berichtet Nicole Jeanneton-Marino über die seltenen Kommentare ihres Vaters.
Unbeantwortete Fragen
Das historische Zweiständerhaus. Die Remise. Der Schweinestall. Mit wachen Sinnen saugt Nicole Jeanneton-Marino die Atmosphäre der ländlichen Umgebung auf. „Das muss die Scheune sein, von deren Dach mein Vater gefallen ist“, vermutet sie und deutet auf eines der Nebengebäude, „und anschließend einige Wochen im Krankenhaus behandelt werden musste.“ Was aus Baptiste und Clovis geworden ist, weiß sie nicht. „Fast alle, die diese Zeit erlebt haben, sind inzwischen gestorben“, bedauert Liselotte Prima. „So bleiben viele Fragen unbeantwortet.“ Zum Beispiel die, nach der Identität des kleinen Mädchens, das Anfang der 1940er Jahre auf dem Hof Hanneken gewohnt hat. „Es hatte ungefähr mein Alter“, weiß Nicole Jeanneton-Marino aus den Aufzeichnungen ihres Vaters. Und wenn Robert Marino das Kind betrachtete, habe er sich vorgestellt, dass im selben Augenblick viele hundert Kilometer entfernt ein ähnlich süßes Mädchen herumlaufe – seine Petite Nicou.
Ein Ort der Sehnsucht
Mehr als 70 Jahre nach dieser unfreiwilligen Trennung erkundet nun Nicole Jeanneton-Marino mit nachdenklichen Blicken die Pfade der Vergangenheit rund um das alte Fachwerkgebäude. „Es war wohl vor allem die Sehnsucht nach seiner Familie“, ist sich die Tochter des 1985 verstorbenen Robert Marino sicher, „die die Jahre meines Vaters in Gehrde geprägt haben.“
(Erschienen in: Bersenbrücker Kreisblatt, 20.08.2016)