Es geht über bemooste Baumstümpfe hinweg, durch Brombeergestrüpp hindurch – immer tiefer hinein in den Forst aus Birken, Kiefern und Fichten. Wildschweinland! Hartmut Meyer, Jäger seit mehr als zwei Jahrzehnten, pirscht durchs Unterholz, und von Schritt zu Schritt wird das Lächeln im Gesicht des 45-jährigen Haleners breiter – jetzt ist es nicht mehr weit bis zu seinem Lieblingsplatz. Am Rande einer kleinen Lichtung taucht er auf: Ganz in Baumstammbraun gestrichen, scheint die rund drei Meter hohe Ansitzkanzel mit ihrer Umgebung zu verschmelzen. Nahezu perfekt getarnt. Meyer seufzt entspannt. „Ja“, sagt er und nickt zufrieden: „Hier sitze ich dann also und warte.“ Und das, versichert er, sei sehr schön. Sehr still. Sehr stressfrei.
„Natürlich finden das nicht alle Leute gut“
Ein Lieblingsplatz auf hohen Beinen. Ein Lieblingsplatz mit tückischer Funktion? Ein Hinterhalt für Fuchs, Reh und wilde Sau? Zur Jägerei kann man so oder so stehen. „Natürlich finden das nicht alle Leute gut“, weiß der passionierte Waidmann, „darum versuche ich jedem, der mich lässt, zu erklären, warum die Jagd notwendig ist.“ Hartmut Meyer, soviel wird schnell klar, übt sein Handwerk aus Überzeugung aus. „Von der Jagdbehörde in Steinfurt bekommen wir jedes Jahr unsere Abschussliste“, erklärt er, „in der genau geregelt ist, wie viele Rehe wir erlegen müssen.“ Denn werde der Bestand der Tiere im Revier zu hoch, erhöhe sich automatisch auch die Zahl der von ihnen verursachten Verkehrsunfälle, ist Meyer überzeugt. In dieser Saison sollen die Halener Jäger laut Vorgabe der Behörde sieben Böcke und im Herbst zwanzig Ricken schießen.
Wenn die Gedanken kommen …
Hartmut Meyer setzt das Fernglas an die Augen und späht über die Schneise. Nichts. „Die meiste Zeit verbringt man als Jäger ja ohnehin schweigend“, sagt er. Dass tatsächlich auch Schüsse fielen, komme naturgemäß eher selten vor. Angesessen wird in der Regel früh am Morgen, wenn es zu dämmern beginnt – oder um den Sonnenuntergang herum. „Man hört zu, wie die Vögel singen, beobachtet die Natur, schaltet ab und denkt an nichts“, sinniert der zweifache Vater über die Vorzüge, die ein der Welt entrückter Lieblingsplatz bietet. Wieder blickt er über die Fläche. Immer noch nichts. „Na ja“, räumt er ein: „Manchmal kommen die Gedanke natürlich auch bis hier her.“ Er winkt amüsiert ab: „Was alles noch zuhause zu erledigen ist zum Beispiel.“ Zuhause – das ist in seinem Fall der familiengeführte Schweinezuchtbetrieb an der Achmerstraße: Sauenhaltung. Ferkelaufzucht. Schweinemast. „Wir betreiben bei uns ein sogenanntes geschlossenes System“, erklärt Meyer, der seit 15 Jahren dem Landwirtschaftlichen Ortsverein Lotte vorsteht. Der Vorteil dieses Unternehmenskonzepts: Wer keine Ferkel aus Fremdbetrieben zukauft, holt sich auch keine externen Krankheitserreger in den Stall und benötigt dem entsprechend weniger Medikamente und Antibiotika.
„Auf dem Schlepper will immer jeder sitzen“
Und wenn nun die Maisonne über den Horizont gestiegen ist und Hartmut Meyer seinen Ansitz verlässt, um sich dem landwirtschaftlichen Pflichtprogramm zu widmen – gibt es auch da so etwas wie einen Lieblingsplatz? „Auf dem Schlepper will immer jeder sitzen“, erzählt der 45-Jährige und lächelt etwas gequält. „Würde ich auch am liebsten.“ Aber noch bis vor ein paar Jahren sei das traditionell der Platz von Vater Heinrich gewesen – und inzwischen hat sich sein ältester Sohn Nils den Posten hinter dem Lenkrad erobert. „Ich darf da höchstens mal zur Ablösung drauf“, schmunzelt Hartmut Meyer, „wenn die anderen ihre Mittagspause machen.“
Ein Wiedersehen bei Sonnenuntergang
Gewissenhaft verschließt er die Ausguckluken des Ansitzes, bevor er durch schlammige Pfützen und unter tief hängendem Rotbuchengeäst hindurch dem Alltag entgegen stiefelt. Wenn gleich im Stall und später bei der täglichen Buchführung alles so reibungslos läuft wie erhofft, sieht Hartmut Meyer seinen Lieblingsplatz am Ende des Tages schon wieder. Und außerdem vielleicht den einen oder anderen Rehbock – und mit ganz viel Glück sogar eine Rotte schmackhafter Wildschweine.
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 06.05.2015; Westfälische Nachrichten, 06.05.2015)