Innenspiegel. Außenspiegel. Schulterblick.

In der Ruhe liegt die Kraft: Fahrlehrer Karl-Heinz Schulz (links) und sein Schüler Benjamin Schimanski üben, auch in kniffeligen Verkehrssituationen den Überblick zu behalten. Foto: Ulrike Havermeyer
In der Ruhe liegt die Kraft: Fahrlehrer Karl-Heinz Schulz (links) und sein Schüler Benjamin Schimanski üben, auch in kniffeligen Verkehrssituationen den Überblick zu behalten. Foto: Ulrike Havermeyer

Benjamin Schimanski beobachtet mich. Seine Augen fixieren das Geschehen aus dem Spiegel heraus, als ich auf der Rückbank des blauen Golf-Diesels Platz nehme. Hinten sitzen – sehr ungewohnt. Ich schnalle mich an, lege Stift und Notizblock bereit, nicke dem Spiegel zu – und komme mir einen Augenblick so vor wie der Fahrerlaubnisprüfer höchstpersönlich.

Lässt etwa die Schärfentiefe nach?

Nun glaube ich, was die Straßenverkehrsordnung angeht, als Autofahrerin wohl hinreichend im Bilde zu sein, aber möglicherweise fehlt es mir inzwischen an einigen Stellen ein wenig an, sagen wir: Schärfentiefe. Das Ausstellungsdatum meiner Fahrerlaubnis reicht weit ins vergangene Jahrtausend zurück. Um mein Wissen auf den neusten Stand zu bringen, begleite ich Fahrlehrer Karl-Heinz Schulz aus Lotte und seinen Schüler Benjamin Schimanski auf ihrer Unterrichtsfahrt.

20 bis 30 Stunden lang üben

Innenspiegel. Außenspiegel. Schulterblick. Den Blinker setzen – und das Abenteuer beginnt. „Benjamin steht kurz vor seiner Prüfung“, erläutert Fahrlehrer Karl-Heinz Schulz und sitzt dabei betont entspannt auf dem Beifahrersitz. „Schalten, Bremsen, Lenken – das hat er alles drauf.“ Zwischen 20 und 30 Stunden, je nach Talent und Vorkenntnis, rechnet man heute bis zum Abschlusstest für den EU-Führerschein, Klasse B, für mehrspurige Fahrzeuge bis 3,5 Tonnen.

Auf der Suche nach „schwierigen Situationen“

„Was Benjamin jetzt unbedingt noch braucht, sind jede Menge schwierige Situationen.“ Schimanskis Rückspiegelaugen weiten sich für einen Moment ahnungsvoll. Doch schon ist sein Blick wieder auf der Straße – und entschieden drosselt er die Geschwindigkeit: Über den Bürgersteig spaziert eine junge Frau, die ein zappeliges Kleinkind an der Hand hält. „Gut gesehen“, lobt Schulz. In den Schultern auf dem Fahrersitz vor mir beginnt sich die Verspannung langsam zu lösen. „Doch“, sagt Schimanski, „ich fühle mich inzwischen von Mal zu Mal sicherer. Aber einige Fehler unterlaufen mir schon noch.“ Er schaltet wieder in den dritten Gang hoch. Ganz ruhig und butterweich. „Dann ärgere ich mich über mich selbst.“

Eine Hochburg der Baustellen und Straßensperren

Der Wagen schnurrt die Atterstraße mit Ziel „Osnabrück“ entlang: derzeit eine wahre Hochburg der Baustellen und Straßensperren – und somit ein vielversprechendes Schatzkästlein voller unübersichtlicher Verkehrssituationen: „Mehrspuriges Fahren, kreuzender Verkehr beim Abbiegen, ständig wechselnde Umleitungen, Linienbusse, Schulbusse, Rettungswagen“, zählt Schulz munter auf, „und ein leider nicht immer optimal gestaltetes Radwegenetz.“

Im Hexenkessel der Mobilität

Auf dem Weg in diesen Hexenkessel der Mobilität lauert bereits die erste Herausforderung: Fahrbahnverengung auf der üblicherweise in beide Richtungen zweispurigen Pagenstecherstraße. Ein greller Parcours aus roten und weißen Baken zwingt die Verkehrsteilnehmer, enger zusammen zu rücken – immer hübsch einer hinter den anderen. Und das bitte ohne Blechschaden und am liebsten: fließend. „Lass Dich parallel zum Verkehr auf der durchgehenden Fahrspur mitrollen und zeig den Anderen, dass Du da rein willst.“

Wenn es mal nicht passt: ruhig bleiben!

Benjamin Schimanski nickt. Innenspiegel. Außenspiegel. Schulterblick. Blinker setzen. – Seufzen. Nicht immer entspricht die Praxis der Theorie. „Ruhig bleiben. Solange Du und die Anderen noch rollen, entstehen auch Lücken“, erklärt Schulz. „Nur, wenn Du die Situation zu spät erfasst und der Verkehr schon steht, wird es kompliziert.“ Verstohlen mache ich mir eine Notiz. Das mit dem Mitrollen muss ich mir merken.

Drehbuchreife Szenarien zum Mitdenken

„Wer schwierige Verkehrskonstellationen rechtzeitig erkennt“, sagt Schulz, „hat mehr Zeit, um zu überlegen und dadurch die Möglichkeit, sicher zu reagieren.“ Ein liegengebliebener Lkw vor einer nicht einsehbaren Einmündung. Eine buschige Hecke, hinter der ein Zweiradfahrer hervor schießt. Wie aus dem Nichts heran donnernde Züge an einer defekten Schrankenanlage. – In jedem guten Fahrlehrer steckt ein fantasiebegabter Dramatiker: Wohl wissend, dass der Mensch Fehler macht und in komplexen Systemen wie dem Straßenverkehr immer wieder in unberechenbare Situationen gerät, konstruiert Schulz drehbuchreife Szenarien. „Wie würdest Du in einer solchen Lage reagieren?“, fragt er dann seinen Schüler und wartet gespannt auf dessen Antwort.

Verkehrsweisheiten to go

Als Benjamin Schimanski 90 Minuten, dutzende Autobahnkilometer, ein paar enge Parklücken, etliche unübersichtliche Kreuzungen und einen Stau später den Diesel auf dem Parkplatz der Schulz’schen Fahrschule ausschaltet und unsere Blicke sich ein letztes Mal im Rückspiegel treffen, wirkt er gelassen. Das Fahren – selbst im Moloch der verkehrswunden Friedensstadt – strengt ihn nicht mehr über die Maßen an. „Ruhig bleiben“, das zentrale Mantra seines Fahrlehrers Karl-Heinz Schulz, entfaltet zunehmend die ihm eigene, wohltuende Wirkung. Nicht weniger einprägsam sind auch die anderen Verkehrs-Weisheiten des Meisters: „Sicherheit ist die oberste Prämisse.“ – „Rücksichtsvoll fahren heißt energiesparend fahren.“ Und natürlich: „Risiken minimieren kann nur, wer vorausschauend unterwegs ist.“ Merksätze, die nicht nur Benjamin Schimanski in den kommenden Jahren wohl bei mancher Fahrt begleiten dürften, denke ich und betrachte die eng beschriebenen Seiten in meinem Notizblock.

(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 16.09.2014; Westfälische Nachrichten, 16.09.2014)