Eine Sucht soll es sein. Behaupten die einen. Urlaub für die Seele. Sagen die anderen. Eine Herausforderung. Ein Geschenk. Etwas Unvergessliches. Jeder, der die rund 150 Kilometer von Meppen über Schwagstorf bis Rulle und wieder zurück nach Meppen pilgert, dürfte recht genau wissen, warum er sich und seinen Füßen das antut. Ohne Grund geht hier keiner mit. Gleichgültigkeit trägt einfach nicht so weit.
Den Trecker hat Bauer Georg Rolfes einfach rausgefahren. Die ganze Scheune pikobello sauber gefegt. Und dann natürlich reichlich Bänke reingestellt. Die Erfrischungsgetränke in Position gebracht, ein paar kleine Stärkungen dazu – fertig. Traditionell legen die Pilger aus Meppen und Bawinkel, aus Haselünne, Schwagstorf und Merzen ihre letzte Rast vor der ersten Übernachtung in Schwagstorf auf dem Gehöft des Bedinghausener Landwirts ein. „Das war schon immer so“, erinnert sich Wallfahrer Heinrich Stüwe aus Bawinkel und lässt sich auf die hölzerne Sitzgelegenheit fallen. „Weißt Du noch, früher?“, wendet er sich an Rolfes. „Da hat Eure Mutter Pfannekuchen für uns gebacken. Bergeweise!“
Schöne Erinnerungen und diplomatische Einsichten
Stüwe grinst vergnügt: „Auf den letzten Kilometern vor dem Hof sind wir dann immer flotter gegangen, um auch ja noch die Frischesten abzubekommen.“ Landwirt Rolfes nickt und schmunzelt nachdenklich. Seine Mutter, erklärt er, die sei 1984 gestorben. Aber vorher habe sie die Wallfahrer viele Jahre lang regelmäßig beköstigt. „Seit wann hat sie das eigentlich gemacht?“, wirft Willy Kessens in die Runde und stützt sich auf seinen hölzernen Wanderstab. Der 75-jährige Schwagstorfer geht die Strecke inzwischen zum 54. Mal und wirkt trotz einer leichten Schweißschicht auf den geröteten Wangen noch erstaunlich fit. Die drei Männer überlegen. Schließlich einigen sie sich auf eine diplomatische Antwort: „Eigentlich wohl schon immer.“
Das Pilgern in die Wiege gelegt bekommen
Die Stimmung unter den Wallfahrern, die sei sehr besonders, beschreibt Bettina Schulten. Ein bisschen feierlich, ja, vielleicht. Dankbar. Voller Bescheidenheit. So in diese Richtung, gehe das eher. Für die Vorsitzende des Ruller Wallfahrtvereins Bawinkel ist es das 19. Mal, dass sie sich in der Gemeinschaft der Gleichgesinnten auf den Weg nach Rulle macht. „Das Pilgern hat mein Vater mir in die Wiege gelegt“, erzählt sie und wirkt sehr zufrieden mit dieser Art von heiter-bewegtem Geschenk. Der sei, seit sie denken könne, ein begeisterter Pilger: „Eigentlich wohl schon immer“, sagt sie und verweist auf ein gut gelauntes Grüppchen betagter Herren am anderen Ende der Scheune, das sich plaudernd um Bauer Rolfes schart: „Mein Vater“, erklärt sie und winkt Heinrich Stüwe zu. Alles klar.
Mit einem tapferen Lächeln geht es weiter
Doch irgendwann ist auch diese Rast vorbei. Ächzend und seufzend, eine Hand ins Kreuz gestemmt – aber meist mit einem tapferen Lächeln dem Nachbarn zugewandt, der schließlich nicht weniger abgekämpft ist – erheben sich die Wallfahrer. Ein letzter Dank an Bauer Rolfes – und weiter geht die Reise. Vielleicht ist es genau diese kollektive Erschöpfung, die mit dafür sorgt, dass nicht bloß die Stimmung, sondern auch die Gespräche unter den Pilgern so anders sind. Anders als im Alltag. Anders als unter Arbeitskollegen. Anders, als ein Plausch im Supermarkt.
„Die Gemeinschaft trägt einen“
„Viele Gesichter sieht man ja von Jahr zu Jahr wieder“, sagt Leni aus Rhede. „Von manchen weiß man auch den Vornamen. Aber beim Nachnamen oder beim Beruf – da hört es dann meistens auf.“ Das alles ist auf Pilgerreisen nicht wirklich wichtig. Man singt gemeinsam. Man betet gemeinsam. Und ab einer gewissen Kilometerzahl leidet man eben auch gemeinsam. „Die Gemeinschaft trägt einen“, sagt Leni. Schwäche zu zeigen, ist hier keine Schande. Weder, was die Kondition angeht, noch sonstwie. Eine überwundene Krankheit. Ein zu verarbeitender Todesfall. Eine berufliche Durststrecke. Das eigene Schicksal, das Los der anderen – vieles relativiert sich auf dem gemeinsamen Weg. Wiegt nicht mehr ganz so schwer.
„Das geht schnell mal auf den Kreislauf“
Inzwischen ist es später Nachmittag – und hinter den sanft gewölbten Äckern tauchen die Dächer von Schwagstorf auf. Nur noch ein knapper Kilometer, dann haben die Pilger ihr Etappenziel erreicht und können sich in die Quartiere begeben, die Johannes Hauke, Rita Artmer und Dieter Suhr für sie organisiert haben. Herrmann Fehnker, Vorsitzender des Ruller Wallfahrtsvereins Meppen nickt beruhigt: die Gruppe ist wohlbehalten angekommen. „Die Strecke ist nicht zu unterschätzen“, betont er. „Das geht schnell mal auf den Kreislauf.“
Die Pilgereltern warten schon
Vor der Schwagstorfer Bartholomäus Kirche warten bereits viele Quartierseltern und suchen nach längst bekannten Gesichtern. „Wo ist Klaus?“, fragt eine Kinderstimme. Der dazu gehörige Junge wuselt aufgeregt in dem Stangenwald aus Erwachsenenbeinen umher, bevor er auf einen Hünen von Meppener trifft: „Da bist du ja!“ Der 46-jährige Klaus lächelt erschöpft, aber glücklich. Seit sieben Jahren kehrt er bei der Familie von Nicole und Andreas Niemeyer ein – deren sechsjähriger Sohn Lars weiß gar nicht, wie ein Jahr ohne den hauseigenen Pilgergast aussähe. Am nächsten Morgen wird sich auch Vater Andreas Niemeyer der Gruppe anschließen, um singend und betend gen Rulle zu ziehen. Und wer weiß, ob in 20 oder 30 Jahren die Pilgerreise nicht auch für Lars eine ganz eigene Bedeutung bekommen wird: Ein Urlaub für die Seele? Eine Herausforderung? Ein Wiegengeschenk?
(Erschienen in: Bersenbrücker Kreisblatt, 04.05.2013)