Meine Kollegin Katharina, gebürtige Quakenbrückerin, ist fassungslos: „Was?! Du warst noch nie beim Artländer Pferderennen?“ Das spektakuläre Ereignis sei die grandioseste Veranstaltung in ihrer Heimatstadt überhaupt, versichert sie mir. Der erste Sonntag im September ein Muss für die Freunde edler Rösser, extravaganter Hüte und prickelnder Platzwetten!
Immer offen für ein neues touristisches Abenteuer checke ich meine Geldreserven, schnappe mir den Fotoapparat – und mache mich auf den Weg zum Hasepark nach Quakenbrück, in dem der Artländer Rennverein seit 25 Jahren seine Wettbewerbe für die schnellsten, zähesten und talentiertesten Traber und Galopper aus ganz Deutschland und dem benachbarten Ausland ausrichtet. „Unser Renntag soll ein Fest für die ganze Familie sein“, benennt Vereinsvorsitzender Gerhard Karrenbrock das Erfolgsrezept: Zwischen Hüpfburg, VIP-Zelt und Wettschalter flanieren alljährlich mehr als 10.000 Besucher.
Die mondäne Welt der Vollblüter
Während ich mit pummeligen Ponys und zur Gemütlichkeit neigenden Freizeitequiden auf Du und Du stehe, ist mir die mondäne Welt der Vollblüter bisher fremd geblieben. Umso faszinierter bin ich, als die ersten Galopper an mir vorbeidonnern – und mir die Bröckchen aus festgebackener Grasnarbe, die sich aus dem Profil ihrer Hufe lösen, um die Ohren fliegen. Flatsch! Noch dichter rankommen ans Geschehen hieße, selber in den Sattel steigen! Mit bebenden Nüstern und vor Schweiß glänzendem Fell jagen die Vierbeiner über das Geläuf. Die Ästhetik überbordenden Temperaments, das perfekte Zusammenspiel von Kraft und Geschwindigkeit – der Erstkontakt ist überwältigend!
Bloß nicht Haus und Hof verspielen
Dem Anblick von Pferden habe sie noch nie etwas abgewinnen können, löst meine Kollegin Katharina mich aus meiner Verzauberung. Es sei der Nervenkitzel beim Wetten, gibt sie zu bedenken, den man auf keinen Fall verpassen dürfe. Also gut, dann mal nichts wie hin zum Wettschalter. Damit ich – vom potenziellen Wettrausch beherrscht – auch ja nicht Haus und Hof verspiele, habe ich mir ein Limit von zehn Euro gesetzt. Der Mindesteinsatz beträgt 50 Cent. Wie ich die grafische Schatzkarte aus Ziffern, Zahlen und vielen, vielen kleinen Kästchen – nicht unähnlich einem Lottoschein – in einen Gewinn ummünzen kann, erfahre ich am Stand der eigens für Anfänger wie mich eingerichteten Wettschule.
Das Geheimnis von Sieg-, Platz- und Kombiwette
Unter Zuhilfenahme eines überdimensionalen Wettscheins weist Nele Feierabend mich in die Geheimnisse von Sieg-, Platz- und Kombiwetten ein. Sechs Galopp-, sechs Trab-, ein Jagd- sowie das legendäre Seejagdrennen werden an diesem Sonntag ausgetragen. Dazu kommt noch ein Kutschenkorso – der ist allerdings nur zum Angucken, nicht zum Wetten gedacht. Gewissenhaft durchstöbere ich die Starterlisten: So illustre Gestalten wie „Dark Fighter“, „Russian Flamenco“ oder „Adel verpflichtet“ geben sich auf dem Artländer Turf ein Stelldichein.
Ein Zeichen setzen
Wäre ich ein Rennexperte, ein Insider der Branche, ein Pferdeflüsterer – dann könnte ich womöglich allein am Augenaufschlag eines Bewerbers erkennen, in welcher Tagesform er an den Start geht. So aber muss ich zu anderen Kriterien greifen: Statt lange zu grübeln, beschließe ich die kompletten zehn Euro auf einmal zu investieren – und zwar im vorletzten Rennen des Tages, jenem mit der schicksalsträchtigen Nummer 13, in dem elf Traber gegeneinander antreten: neun Wallache, ein Hengst und eine Stute namens „Day Dream“. Ohne zu zögern setze ich außer dem Geld auch gleich noch ein Zeichen für weibliche Solidarität.
Wenn sich der Herzschlag beschleunigt
Als zackig die Ambosspolka aus den Lautsprechern dröhnt und die Moderatoren noch darüber orakeln, wer denn wohl als Favorit gelten könne, betritt Day Dream lässig die Szene. Unbeeindruckt tänzelt sie vor ihrem Sulky über das Grün, die Ohren aufmerksam gespitzt, die ganze Körperhaltung strotzt vor Selbstbewusstsein – und da! Hat sie mir da nicht gerade aus ihren unergründlich schwarzen Augen zugezwinkert? Ich spüre, wie mein Herzschlag sich beschleunigt.
Eine Außenseiterin legt los
„Die Quoten sprechen deutlich gegen Nummer Fünf, Day Dream – eine klare Außenseiterin“, baden sich die nichtsahnenden Fachleute am Mikrofon in Unwissenheit. Schon positionieren sich die Teams hinter dem Startwagen – und los geht es: drei Runden, 2200 Meter, Flutwellen aus Adrenalin tosen durch meine Adern! Ich kann gar nicht hinsehen – glaube aber ganz fest an die gute, alte Day Dream, die sich jetzt laut Kommentator im hinteren Bereich des Feldes wiederfindet. Zweite Runde: Nummer Fünf noch immer abgeschlagen – „Los jetzt! Day Dream!! KOMM SCHOOON!!!“ Du liebe Güte – bin ich das etwa, die da so schreit?
Einer Ohnmacht so nah
Um es kurz zu machen: Just im Schlussbogen schiebt sich Day Dream am bisherigen Führungsduo vorbei und liefert ein beeindruckendes Finish – lange war ich einer Ohnmacht nicht mehr so nah wie in diesem Moment. Was werde ich mit dem Gewinn anstellen? Eine kleine Reise? Eine Party für alle? Während ich mich wohlig von der Euphorie meines bevorstehenden Sieges übermannen lasse, tut Day Dream es mir gleich – und schaltet auf den letzten Metern vor der Ziellinie in den falschen Gang. Die Lautsprecherstimme kreischt auf: Denn wer beim Trabrennen statt zu traben in den Galopp verfällt, wird laut Reglement unverzüglich disqualifiziert. Da hilft kein Jammern und kein Klagen… Also: Nix mit Reise. Nix mit Party.
Impulsiv, stürmisch, zügellos
Gefühlte Stunden später erwache ich aus einem Zustand kompletter Paralyse und fühle ich mich Day Dream verbundener denn je: So sind wir nun einmal, wir Frauen: impulsiv, stürmisch, zügellos. Da kann es schon mal passieren, dass es mit uns durchgeht, da ist uns der emotionale Kick dann einfach wichtiger als der schnöde Sieg. Nächstes Jahr am ersten Sonntag im September, soviel steht fest, komme ich wieder nach Quakenbrück. Und ja – selbstverständlich werde ich auch dann wieder meinen gesamten Einsatz auf eine Stute setzen.
(Erschienen 2018 unter blog.osnabruecker-land.de)