Was dem Vampir seine finstere Gruft und dem Igel sein stiller Totholzstapel, ist der griechischen Landschildkröte ihr kühler Schuhkarton. Doch ob ein zum Überleben notwendiger Ort gleichzeitig auch ein Lieblingsplatz sein kann?
Momo öffnet bedächtig das linke Auge, zeigt ein undurchdringliches Pokerface – und schweigt. Von der unterkühlten Reptiliendame, die gerade aus ihrer Winterstarre erwacht, ist keine Antwort auf diese Frage zu erwarten. Genau so wenig wie von ihren Artgenossen Kasimir, Charly und Vicky. Eines ist allerdings sicher: Mira (12 Jahre), Meike (12) und Jared (14), die gewissenhaften Schildkrötenbesitzer, haben sich im vergangenen Herbst alle Mühe gegeben, ihren gepanzerten Freunden die Überwinterungsschachteln so komfortabel wie möglich einzurichten. Denn immerhin verbringen die Haustiere der Familie Niemeier beinahe das halbe Jahr im Kühlschrank.
Nur noch ein Gedanke: schlafen!
Jeder Schritt eine Überwindung. Die Beine fühlen sich mindestens so schwer an wie die Augenlider. Das Gewicht des Panzers eine kaum mehr zu ertragende Last. Im Kopf dümpelt nur noch dieser eine Gedanke: schlafen! Zumindest aus menschlicher Sicht dürfte einer Schildköte, über die langsam aber sicher die Winterstarre hereinbricht, ein dick mit frischem Herbstlaub ausgepolsterter Schuhkarton doch recht angenehm erscheinen: ruhig, geschützt und perfekt temperiert – ein Ort mit Lieblingsplatzpotenzial. Also: schnell einkuscheln und dann – bitte nicht stören! Ganz so einfach ist die Sache mit den Schildkröten und ihrem favorisierten Winterquartier allerdings nicht.
Vom Terrarium ab ins Freiland
„Vieles haben wir uns aus Fachbüchern angelesen“, sagt Michaela Niemeier. „Und inzwischen kommt die eigene Erfahrung dazu.“ Die Mutter von Mira, Meike und Jared weiß um die Fakten, wenn es darum geht, die vier Schildkröten möglichst artgerecht durch den Winter zu bringen. Als Kasimir, Vicky und Momo vor elf und Nachzügler Charly vor sieben Jahren als winzige Reptilienkinder zu den Niemeiers stießen, richtete die Familie ihnen zunächst ein Terrarium in der Wohnung ein. „Aber wir wollten ja, dass unsere Schildkröten so naturnah leben können, wie es eben geht“, sagt die Westerkappelnerin. Und das bedeutet: Als Freigänger die warme Jahreszeit über ab in den Garten. Und, so sieht nun einmal die Kehrseite einer halbwegs natürlichen Lebensweise aus: Von Oktober bis April geht es zur Winterstarre in den Kühlschrank. „Zuerst hatten wir schon ein mulmiges Gefühl dabei“, erzählen die Zwillingsschwestern Meike und Mira. Wie würden sich ihre vierbeinigen Lieblinge fühlen – eingeschlossen in einer Pappschachtel bei plus fünf Grad Celsius im Kühlschrank des Partykellers?
Ein „Tauchbecken“ voller Rindenmulch
Allerdings: Wenn es in seine Kartons gesetzt wird, schlummert das Reptilien-Quartett schon tief und fest. Mutter Michaela: „Schildkröten benötigen ein sehr unterschiedlich strukturiertes Außengelände.“ Neben mit Gras und Wildkräutern bewachsenen Bereichen gibt es Sandmulden zum Graben, kieselige Abschnitte, die die Wärme der Sonne speichern, Tunnel und Höhlen als Unterschlupf, Äste und Gebüsch zum Klettern und: ein rund einen Meter tief in die Erde eingelassenes „Tauchbecken“ voller Rindenmulch, in das sich die Tiere besonders nachts gern zurück ziehen. „Zum Herbst hin verlangsamt sich bei den Schildkröten aufgrund der sinkenden Außentemperaturen der Stoffwechsel“, erklärt Michaela Niemeier: Die Phasen, die die wechselwarmen Tiere unter der Erde verbringen, werden länger, und sie nehmen kaum noch Nahrung zu sich. „Wenn sie 14 Tage nichts mehr gefressen haben und nicht mehr aus ihrem Rindenmulch aufgetaucht sind, siedeln wir sie in die Schuhkartons um.“
Akribische Kontrollen
Und – keine Sorge, so einsam gestaltet sich die Zeit im Kühlschrank für Momo, Charly, Vicky und Kasimir gar nicht: Alle zwei Wochen kontrollieren die Niemeiers akribisch, ob es ihren Schildkröten auch wirklich gut geht: Stimmt das Gewicht noch? Sind Augen und Nasenlöcher sekretfrei? Ist der Panzer in einem guten Zustand? Haben sich auch keine Parasiten eingeschlichen? Das Laub wird sorgfältig mit frischem Wasser befeuchtet. „Denn das ist die größte Gefahr“, sagt Michaela Niemeier, „dass die Tiere über den Winter austrocknen.“
Ist etwa schon wieder Frühling?
Dieses wohlig entspannte Gefühl. Durch und durch zufrieden. Keinen Verpflichtungen nachgehen müssen – einfach nur daliegen, dösen und den lieben Gott eine gute Kröte sein lassen. Da bewegt sich mit einem Mal der Schlafplatz. Vertraute Stimmen dringen an die Gehöröffnungen. Und der Deckel des winterlichen Universums wird entschlossen zur Seite geschoben: „Hallo Kasimir, hallo Vicky!“, flüstern Mira und Meike. Die so behutsam Aufgeweckten öffnen träge jeweils eines ihrer Augen und scheinen etwas widerwillig zu seufzen. „Ja – ist denn schon wieder Frühling?!“
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 22.04.2015; Westfälische Nachrichten, 22.04.2015)