Nein, aufs Motorrad steige ich nicht. Um den Freuden und Nöten eines Bikers möglichst nah zu kommen, melde ich stattdessen meinen Mann zum Sicherheitstraining der Verkehrswacht an. Seine Saisonpause hat immerhin etwa zwanzig Jahre gedauert.
Der Straßenverkehr ist gefährlich, und Motorradfahren macht Spaß. So lauten die beiden Axiome – Grundsätze, die nicht bewiesen werden können oder müssen –, die zurzeit unsere Familie beherrschen. Die unterschiedliche Gewichtung dieser – vermeintlichen oder tatsächlichen? – Gegensätze, sorgt bei uns für abendfüllende Diskussionen.
Unabhängigkeit durch Mobilität
Genau wie mein Mann, hat auch mein Sohn seinen Zweiradführerschein im zarten Alter von 16 Jahren erworben. Das ist erst wenige Wochen her. „Unabhängigkeit durch Motorisierung“ – als überzeugte Fahrradfahrerin hat es mich Einiges an Überwindung gekostet, meine Zustimmung zu dem familieninternen Mobilitätsprojekt unseres Nachwuchses zu geben. Und als hätte ich es geahnt: Kaum hatte sich der Junior sein erstes Bike zugelegt, übertrug sich das Motorrad-Fieber auch schon auf meinen Mann.
Fachsimpeln und Felgen schruppen
Nun stehen also zwei Enduros im Stall. Und kaum ein Tag vergeht, an dem Vater und Sohn nicht begeistert vor ihren Maschinen knien, emsig an deren Felgen herum polieren – und mit leuchtenden Augen in sich mir nicht erschließende Fachsimpeleien, überwiegend technischer Natur, vertieft sind. Irgendwie süß, gebe ich zu. Dennoch: Der Straßenverkehr ist und bleibt gefährlich. Und weil sich auch die beiden Motorradenthusiasten dessen bewusst sind, willigt mein Mann sofort ein, dem Vorbild seines Sohnes (der den Grundkurs bereits im Rahmen seiner Fahrschulausbildung absolviert hat) nachzueifern und am von der Verkehrswacht Melle auf dem Gelände der Lotter Spedition Munsberg angebotenen Sicherheitstraining teilzunehmen.
Herausforderungen des Straßenverkehrs meistern
„Je besser ein Biker sich und seine Maschine kennt, sowohl deren, als auch seine eigenen Stärken und Schwächen einzuschätzen weiß, desto souveräner ist er imstande, die Herausforderungen des Straßenverkehrs zu meistern“, lautet das Credo von Marc Hoffmann, Fahrsicherheitstrainer, Kriminaloberkommissar und so leidenschaftlicher wie versierter Motorradfahrer. Regelmäßig animiert der 43-Jährige daher zu Beginn der Saison die Zweiradfahrer zu Vollbremsungen, maximaler Schräglage und anderen Notmanövern. Nicht im Straßenverkehr, sondern innerhalb der geschützten Umgebung des Übungsgeländes, versteht sich.
Sich keine Nachlässigkeiten erlauben
Während Hoffmann schon mal die Pylone aufstellt, machen sich die Teilnehmer startklar: sieben Männer, drei Frauen, der Älteste 64, die Jüngste 19 Jahre. Chopper, Tourenbikes, Sportler – und eine betagte Enduro, deren Felgen in der Sonne blitzen. „Man fährt und fährt und fährt“, beschreibt Alfred Jedamczyk aus Westerkappeln sein Hobby, „und das Fahren wird langsam zur Gewohnheit.“ Aber genau die führe eben oft zu kleinen Nachlässigkeiten, die man sich als Motorradfahrer einfach nicht leisten könne. Ein guter Grund also, immer mal wieder bei einem Sicherheitstraining mitzumachen.
Gesunde Selbsteinschätzung vermitteln
Der Grundkurs der Verkehrswacht ist praxisorientiert: Gut acht Stunden lang beschäftigt sich die Gruppe mit Bremsverhalten und Kurvenstilen, Einlenkimpulsen, Blickführung und allerlei heiklen Verkehrssituationen. Marc Hoffmann schickt seine Schützlinge durch Slalomparcours und auf die Kreisbahn, lässt sie beschleunigen, ausweichen und im Fahren auf der Sitzbank ihrer Maschinen knien – was mich ein bisschen an das Voltigiertraining meiner Tochter erinnert. Auch da geht es um Körperbeherrschung, Gleichgewicht – und eine gesunde Selbsteinschätzung der eigenen Grenzen und Möglichkeiten.
Überraschende Erfahrungen und Einsichten
Etwas aus der Puste geraten, streift mein Mann sich den Helm vom Kopf. Wie seine Mitstreiter, ist auch er am Ende des Tages sehr angetan von den – oft überraschenden – Erfahrungen und Einsichten: „Besonders viel hat es mir gebracht, dass wir Dinge ausprobiert haben, die man im Alltag so eigentlich gar nicht macht: eine Vollbremsung oder extremes Langsamfahren zum Üben von Balance und Kontrolle“, berichtet er. Auch, daran erinnert zu werden, wie Reaktionszeit, Bremsweg, Fahrtempo und Restgeschwindigkeit zusammenhängen, sei überaus sinnvoll gewesen.
Fünf Prozent mehr Sicherheit
„Wenn ihr nur fünf Prozent mehr Sicherheit für euch aus diesem Training mitnehmt, bin ich zufrieden“, sagt Marc Hoffmann. Im kommenden Jahr bietet er den nächsten Grundkurs in Lotte an. Er werde, kündigt mein Mann an, dann wohl auch wieder dabei sein. Höchstwahrscheinlich in Begleitung seines Ältesten: Schließlich könne sich ein gemeinsames Motorrad-Sicherheitstraining als genau das richtige Vater-Sohn-Abenteuer erweisen, das das Potenzial für eine liebzugewinnende Familientradition in sich trage. Denn der Straßenverkehr sei und bleibe nun einmal gefährlich – und Motorradfahren mache, wenn man seine Maschine sicher beherrsche, einfach noch viel mehr Spaß.
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 21.06.2017)