Vor allem Fahrräder scheinen davon betroffen: Sie verschwinden spurlos, schmelzen dahin wie Schnee, verdunsten in die Unsichtbarkeit – und materialisieren sich auf wundersame Weise im Fundbüro der Gemeinde Lotte zu alter Gestalt zurück. Zumindest einige.
Kennen Sie das? Eben lag der Schlüsselbund noch auf der Kommode – und zack: weg ist er. Oder hatte ich ihn gar nicht dort abgelegt? Steckt er etwa noch in meiner Jackentasche? Fehlanzeige! Schon länger hege ich den Verdacht, dass einige vorwitzige Gegenstände, bevorzugt solche aus meinem näheren Umfeld, sich nicht an die doch eigentlich eindeutigen Regeln der Schulphysik halten – und sich eines geradezu subversiven Eigenlebens erfreuen. Portemonnaies tauchen unter. Drahtesel brechen aus. Rosenscheren verreisen in andere Ortsteile.
Email von der Rosenschere
Manche von ihnen schleichen sich dezent in den Alltag zurück. „Da liegt doch dein Portemonnaie“, bemerkt mein Sohn mit unüberhörbarem Tadel in der Stimme und zeigt auf die Ablagefläche über der Waschmaschine. Auf dem Wohnzimmersofa chillt in aller Seelenruhe mein Schlüsselbund. Die Rosenschere schickt eine Email aus Seeste: Sie möchte bitte abgeholt werden. Doch nicht alles, was verschwindet, kehrt freiwillig zurück. Da gibt es auch die Diven unter den Dinge, die mit einem ausgeprägten Hang zum Dramatischen jeglichen Kontakt hinauszögern. Sie lassen sich fernab ihres ratlosen Eigentümers an sonderbaren Plätzen von fremden Personen entdecken, um – oft über Umwege – dahin zurückzukehren, wo sie hingehören. Zumindest manchmal.
Sechs Monate unter Verschluss
„Das ist doch wirklich nett, wenn jemand eine Sache findet und sich dann hier bei uns meldet“, sagt Liane Maug, Hüterin des Fundbüros der Gemeinde Lotte. „Wer den Eigentümer nicht selbst ermitteln kann“, berichtet Verwaltungsangestellte, „ruft in der Regel unter Telefon 05404/889-11 im Fundbüro an.“ Wie geht es dann weiter? „Handelt es sich um einen größeren Gegenstand“, erklärt meine Gesprächspartnerin, „bitte ich einen Mitarbeiter des Bauhofs, ihn abzuholen.“ Eine Kommune sei verpflichtet, nicht zu vermittelnde Fundsachen aus dem Gemeindegebiet ein halbes Jahr lang einzulagern. Danach stehen sie dem Finder zu.
Eine Herde Drahtesel im Keller
Wir wandern einen schmalen Korridor im Rathauskeller entlang, bis Liane Maug vor einer der roten Türen stehenbleibt. „Über einen speziellen Raum verfügt unser Fundbüro nicht“, sagt sie. Während die Westerkappelnerin die kleineren Dinge – Schlüssel, Smartphones, Digitalkameras – in einer Pappschachtel in ihrem Büro im Erdgeschoss aufbewahrt, landen die sperrigen Dinge im Keller: Tür auf, Licht an – und schon stehen wir mittendrin in einer stattlichen Herde überwiegend gut erhaltener Stahlrösser: Trekkingräder, Tourenräder, Geländeräder, Herren-, Damen- und Kinderräder, in einer Ecke wartet ein Rollstuhl auf bessere Zeiten. Zwei Rollatoren leisten ihm stumm Gesellschaft. Liane Maug öffnet einen blauen Plastiksack – darin: fünf Pelzjacken. Die edlen Kleidungsstücke habe die Polizei am Rand der Autobahn gefunden, erklärt sie und setzt mit vielsagendem Blick hinzu: „Wahrscheinlich vom Lkw gefallen…“ Heiße Ware? Einige Dinge verschwinden, obwohl sie gar nicht verschwinden wollen.
Kein Vermissen, kein Suchen?
„Bei gefundenen Fahrrädern überprüft die Polizei anhand der Rahmennummer, ob das Rad gestohlen ist“, erläutert die Verwaltungsangestellte das Prozedere. Ist das nicht der Fall, wird das Vehikel im Keller des Rathauses zwischengeparkt. Wenn sich der Eigentümer nicht meldet, und auch der Finder nach sechs Monaten keinen Wert auf den Fundgegenstand legt, wird dieser – wie im Falle der Pelze – vernichtet. „Die Fahrräder geben wir an Bedürftige oder an die Fahrradwerkstatt der Flüchtlingshilfe ab“, erklärt Liane Maug. Ich lasse meinen Blick über die mehr als 30 Drahtesel schweifen. Wie können so viele Fahrräder verloren gehen, frage ich mich. Und fällt es deren Besitzern gar nicht auf? Kein Vermissen, kein Suchen? „Manchmal ruft jemand an, dem eine Sache abhanden gekommen ist“, sagt Liane Maug. „Aber so oft kommt das nicht vor.“ Die Vermittlungsrate, berichtet die Rathausmitarbeiterin aus ihrer Erfahrung, liege deutlich unter 50 Prozent. Da scheinen also in nicht wenigen Fällen nicht bloß die Sachen selbst zu verschwinden, sondern auch die Erinnerung an sie oder schlichtweg das Interesse an ihnen.
Vom Verlieren und Wiederfinden
Ob nun ominöse örtliche Objektverschiebung oder persönliche Schusseligkeit der Grund für das Verschwinden von Gegenständen ist, kann auch Liane Maug – die Archivarin der verloren gegangenen Dinge, die Wächterin über das Sammelsurium der Vergessenheit – nicht mit letzter Gewissheit sagen. Ihr Rat: Nicht nur wer etwas gefunden hat, sollte darüber das Fundbüro informieren. Auch für diejenigen, die etwas vermissen, könnte der kommunale Keller möglicherweise zu einem Ort des Wiedersehens werden.
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 08.03.17; Westfälische Nachrichten, 08.03.17)