„Mein Name ist Aysun. Ich komme aus der Türkei. Woher kommen Sie?“ Gerade mal drei Stunden Deutschunterricht haben die Teilnehmer des Integrationskurses an der Volkshochschule (VHS) in Lengerich hinter sich – da können die meisten von ihnen bereits eine kleine Unterhaltung mit ihrem Nachbarn führen. 14 Migranten aus zehn verschiedenen Ländern lernen hier gemeinsam eine für sie weitgehend unbekannte Sprache. Von Montag bis Freitag, 8.30 bis 12.30 Uhr. Sieben Monate lang. Unterrichtet werden sie an diesem Vormittag von Milena Hrouda – aus Mazedonien. Ich, der Gast, bin die einzige Muttersprachlerin in dieser ambitionierten Gruppe. Und – vorübergehend sprachlos. Dass etwas, das für mich so selbstverständlich ist wie meine Sprache, für andere Menschen zu etwas so Besonderem werden kann, verblüfft mich. „Sprachunterricht ist die sanfteste Form der Integration“, hat VHS-Leiterin Angelika Weide mir im Vorgespräch mit auf den Weg gegeben. Jetzt ahne ich, was sie meint.
In jedem Kopf wohnt eine andere Muttersprache, in jedem Herzen eine andere Geschichte
„Keine Panik. Tief durchatmen. Alles wird gut“, beruhigt Milena Hrouda ihre Schüler. Noch ist das Eis allerdings nicht gebrochen. Die Kursteilnehmer – einige von ihnen unter zwanzig, andere über sechzig Jahre alt, stammen aus Rumänien und aus Italien, aus Kroatien, Albanien und Russland, aus Polen und der Türkei, aus Bulgarien, Mazedonien und aus Griechenland. Manche leben und arbeiten schon seit Jahren in Deutschland, manche sind erst vor ein paar Wochen hergekommen. In fast jedem Kopf wohnt eine andere Muttersprache, in jedem Herzen eine andere Geschichte. Wie soll das funktionieren, so unterschiedliche Menschen mit so verschiedenen Voraussetzungen miteinander ins Gespräch zu bringen, frage ich mich.
Wer aus einem anderen Land stammt und in Deutschland lebt, ist – je nach persönlicher Situation – berechtigt oder verpflichtet, einen Integrationskurs zu besuchen. Das „Bundesamt für Migration und Flüchtlinge“ hat diese Kurse, die aus einem 600 Stunden dauernden Sprachunterricht und einem 60 Stunden umfassenden Orientierungskurs über gesellschaftspolitische Strukturen in Deutschland bestehen, 2005 im Rahmen des Zuwanderungsgesetzes eingeführt. Der Integrationskurs ist in sechs Module unterteilt. Mithilfe eines vorgeschalteten Einstufungstests ermittelt der jeweilige Anbieter, welches Modul den Vorkenntnissen des Teilnehmers entspricht. Dabei reicht das Niveau von „keine oder nur geringe Kenntnisse“ (Modul 1) bis zur „Kommunikationsfähigkeit in vertrauten Alltagssituationen“ (Modul 6). Am Ende des Integrationskurses steht die Prüfung „Deutsch-Test für Zuwanderer“. Wer dabei Sprachkenntnisse auf dem Niveau „B1“ nachweist – das bedeutet laut „Gemeinsamem Europäischen Referenzrahmen“ eine „selbstständige Sprachverwendung“ – erwirbt das „Zertifikat Deutsch“.
„Das schaffen wir – keine Panik. Tief durchatmen!“ Milena Hrouda nickt zuversichtlich. Das Kunststück, einer beeindruckend heterogenen Schülerschaft die deutsche Sprache als unentbehrliche Alltagszutat schmackhaft zu machen, ist dem engagierten Dozenten-Team der VHS schon oft genug gelungen: Seit zehn Jahren bietet die Institution inzwischen Deutschunterricht für Migranten an. Seit 2012 ist Milena Hrouda dabei. „Alles wird gut“, versichert sie den Anwesenden noch einmal. Hier und da legt sich ein erstes, zaghaftes Lächeln auf die Gesichter, und der ein oder andere Blick entspannt sich.
Ortswechsel: Im Seminarraum der VHS in Westerkappeln findet an diesem Vormittag eine der letzten Übungsstunden vor dem abschließenden Sprachtest statt. Im vergangenen September sind die 19 Frauen und Männer – so wie jetzt ihre Kollegen in Lengerich – mit dem „Modul 1“ gestartet. Mittlerweile befinden sie sich auf der Zielgeraden von „Modul 6“. Neben mir sitzt Sebastian aus Polen, der seit knapp vier Jahren in Alt-Lotte lebt und Vater eines zweijährigen Sohnes ist. Er brütet über einem Lückentext zur korrekten Verwendung von Adjektiven: „Ich möchte ein klein_ , nicht zu teur_ Zimmer in zentral_ Lage.“ Der 42-Jährige schüttelt den Kopf und seufzt: „Warum ist Deutsch bloß so schwer?“ fragt er mich und zuckt in gespielter Verzweiflung mit den Schultern. Wir beugen uns zusammen über den Aufgabenzettel. Klar, weiß ich, welche Endungen zu ergänzen sind – aber die Regeln erklären? Keine Chance. Mein Respekt vor den Sprachlehrerinnen der VHS wächst weiter.
Die Gespräche werden persönlicher. Spannender. Wichtiger.
In der nächsten Lektion sollen Haupt- und Nebensätze miteinander verbunden werden: „Ich ärgere mich, dass…“, „Ich fühle mich wohl, weil…“, „Ich streite mich, wenn…“ Spätestens jetzt registriere ich, dass es längst nicht mehr bloß um Grammatik und die passenden Vokabeln geht, sondern dass die Inhalte zunehmend relevanter werden: In welchen Situationen fühlt sich beispielsweise Kim Hoa, die freundliche, 46-jährige Vietnamesin, die seit 2004 in Büren wohnt, deren zwei älteste Kinder das Gymnasium in Tecklenburg besuchen und deren Jüngster noch zum Kindergarten geht, eigentlich wohl? Und worüber genau freut sich die junge Albanerin Pranvera, die vor vier Monaten aus dem Kosovo zu ihrem Ehemann nach Wersen gezogen ist, und die neben dem Sprachunterricht noch einem Teilzeitjob nachgeht? Die Gespräche werden persönlicher. Spannender. Wichtiger. Gedanken über die Zukunft der Familie. Über den Umgang mit den Kollegen. Über die Hoffnung, dass es mit dem Leben in Deutschland gut weiter geht. Lauter Themen, die über alle Unterschiede hinweg jeden aus der Gruppe berühren.
Bis in die Frühstückspause halten die Diskussionen an. Gebannt höre ich zu, wie die fast zwei Dutzend Menschen aus unterschiedlichen Kulturen, unterschiedlichen Generationen und unterschiedlichen Nationen energisch gestikulierend aufeinander einreden – befreit lachend und in ausführliche Erklärungen vertieft, Erfahrungen austauschend, einander Tipps gebend und sich gegenseitig darin bestärkend, dass sie auch den anstehenden Abschlusstest gemeinsam schaffen werden. Dann bin ich plötzlich noch einmal sprachlos, als mir klar wird, dass Pranvera, Kim Hoa, Sebastian und die anderen Kursteilnehmer ihre Unterhaltungen längst auf Deutsch führen. Und dass ohne diese gemeinsame Sprache ein solcher Brückenschlag zwischen ihnen wohl schlichtweg nicht möglich wäre.
Seit zehn Jahren bietet die VHS Lengerich in ihrem gesamten Zweckverband, der die Gemeinden Lengerich, Lotte, Lienen, Ladbergen, Westerkappeln und Tecklenburg umfasst, Integrationskurse für Migranten an. Wer an einem solchen Kurs teilnehmen möchte, kann sich an Ludmila Schallenberg, VHS-Lengerich, unter Telefon 05481/938815 wenden. Die pädagogische Mitarbeiterin koordiniert das Kursangebot, führt die Aufnahmegespräche mit den Schülern, organisiert die Prüfungen und berät die Migranten auch über die Finanzierungsmöglichkeiten eines Integrationskurses.
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 25.03.2015; Westfälische Nachrichten, 18.04.2015)