Sitzgymnastik? Na klar, habe ich bei der Vorbereitung auf dieses Thema zuerst an einen gemütlichen Seniorenkreis gedacht. Ein bisschen mit den Armen kreisen. Danach ein ruhiges Klatschspiel. Bloß nichts Wildes. Selten habe ich mich so geirrt.
Dass mich hier im kleinen Saal der Handarper Kirche kein bedächtiges Getrödel erwartet, merke ich schnell: Die Tische sind an die Wände geschoben. Der Großteil der gepolsterten Stühle ebenso. Die freigelegte Fläche verströmt Turnhallenatmosphäre. Ein knappes Dutzend Frauen bereitet sich mit entschlossenen Gesichtern auf das Training vor, bindet sich eilig die Sportschuhe zu. Übungsleiterin Renate Lipa verteilt knallbunte Softbälle: 45 Minuten Sitzgymnastik, organisiert vom SC Velpe Süd, stehen an – und von dieser wertvollen Zeit wollen die Teilnehmerinnen ganz offensichtlich jede Sekunde nutzen. Als ich das emsige Treiben um mich herum registriere, ahne ich, dass es die richtige Entscheidung war, statt meiner Jeans den bequemen Trainingsanzug anzuziehen. Für nötig gehalten hatte ich das zuhause allerdings nicht.
Nicht auf alte Leute reduzieren
„Sitzgymnastik ist eine Form der funktionalen Gymnastik“, erklärt mir Renate Lipa: „Wir betreiben hier keinen Konditionsaufbau, sondern trainieren schwerpunktmäßig die Konzentration, die Koordination sowie die Mobilität der Gelenke, und wir kümmern uns um die Sturzprophylaxe.“ Sie blickt aufmerksam in die Runde. Jede Teilnehmerin hat sich bereits einen Stuhl herangezogen. „Bei den Übungen setzten wir verschiedene Hilfsmittel ein: außer Softbällen auch Hanteln, Thera-Bänder oder Brasil, um die Tiefenmuskulatur zu kräftigen. Sitzgymnastik – “, sagt Renate Lipa, hebt ihre Augenbrauen und blickt mich nachdrücklich an: „Sitzgymnastik lässt sich keinesfalls auf alte Leute reduzieren, die auf einem Stuhl sitzen.“ Irgendwie fühle ich mich nun doch ein wenig in meinen Vorurteilen ertappt und stimme der Übungsleiterin daher nur umso energischer nickend zu.
Eine Frage der Balance
Musik ab – auf geht’s! Gerade will ich es mir auf meinem Stuhl bequem machen, da bemerke ich aus den Augenwinkeln, dass sich die Velper Sitzgymnastinnen gerne im Stehen aufwärmen: In dynamischen Bewegungen schwenken und strecken, schütteln und dehnen wir unsere Körper. Vom Hals über die Schultern, die Arme und den Rücken bis zu den Beinen und den Füßen hinunter werden die Muskeln auf Arbeitstemperatur gebracht. Das volle Programm. „Jetzt den linken Fuß vorstellen und aus der Grätsche heraus den Oberkörper nach vorne lehnen“, fordert uns Renate Lipa auf. „Spielt dabei mit dem Gewicht. Wer einen guten Tag hat, kann den Flieger machen und das rechte Bein nach hinten wegstrecken!“ Während ich noch hilflos kippelnd versuche, im Einbeinstand die Balance zu finden und mich dabei verstohlen an der Rückenlehne meines Stuhls festhalte, entfalten die Anderen bereits souverän ihre Arme zu beiden Seiten und verwandeln sich in triumphierende Monumente des eigenen Gleichgewichts.
Den Zipperlein trotzen
Spätestens als die Softbälle ins Spiel kommen – und es mir partout nicht gelingen will, die beiden synchron von meiner mir gegenüberstehenden Partnerin geworfenen Flugobjekte gleichzeitig aufzufangen – , finde ich mich neidlos mit der koordinatorischen Überlegenheit der sportlichen Seniorinnen ab. „Die meisten von uns waren ja auch vorher schon im Verein aktiv“, tröstet mich Hannelore Westermann. Die Westerkappelnerin hat beispielsweise viele Jahre lang Geräteturnen beim SC Velpe Süd betrieben. Von ihren Mitstreiterinnen haben einige der Mattengymnastik oder der Leichtathletik gefrönt. Doch irgendwann kommen die ersten Zipperlein und fordern ihren Tribut: Hier ein Fall von Arthrose, da ein Fall von Bandscheiben-, Knie- oder Hüftbeschwerden. „Aber wir wollen ja weiterhin Sport treiben – man will ja fit bleiben“, sagt Hannelore Westermann, „und da hat sich die Sitzgymnastik als genau die richtige Herausforderung erwiesen.“
Von Vorurteilen geläutert
Die Sitzgymnastikgruppe des SC Velpe Süd trifft sich jeden Montag von 17.45 bis 18.30 Uhr im kleinen Saal der evangelischen Kirche in Handarpe. „Interessenten sind jederzeit herzlich willkommen“, lädt Übungsleiterin Renate Lipa zum unverbindlichen Schnuppern ein und stopft die Softbälle zurück in die große Tasche. Während sich die Seniorinnen zufrieden lächelnd ihre Sportschuhe abstreifen und zum geselligen Teil übergehen, hinke ich – von sämtlichen Klischees, was den Seniorensport betrifft, geläutert – über den Parkplatz zu meinem Wagen zurück und spüre wie der Muskelkater mit grimmigem Wohlwollen meine Beine hinaufschleicht.
(Erschienen in: Neue Osnabrücker Zeitung, 01.02.2017; Westfälische Nachrichten, 01.02.2017)