Behutsam dreht sich der Schlüssel im Schloss. Dann schwingt das Dielentor langsam auf und gibt den Blick auf die alte Werkstatt frei. Es riecht nach Leder und nach Holz und irgendwie sogar ein bisschen nach Weihnachten.
Fritz Lubahn lächelt beim Anblick des beredten Inventars. Und wie er da vorsichtig seine Schritte zwischen Regalen voller wohlgeformter Leisten und allerlei bewährtem Handwerkszeug von der Zwickzange bis zur Rundahle an diversen detailgetreu hergerichteten Werktischen vom Mittelalter bis zur Nachkriegszeit vorbei auf einen ehrwürdigen Verkaufstresen zu lenkt, steht dem 74-jährigen Schuhmacher die Vorfreude ins Gesicht geschrieben. Fritz Lubahn wirkt so vergnügt, als habe er sich hier in dem kalten Gemäuer zu einem zünftigen Plausch mit ein paar Freunden und Kollegen aus früheren Zeiten verabredet. Verschmitzt zwinkert er dem Besucher zu: „Willkommen in der Vergangenheit!“
Ein ganz besonderes Unikat
Doch es ist nicht nur seine eigene Geschichte, durch die der langjährige Obermeister der Münsteraner Schuhmacher-Innung jetzt bedächtig schreitet. Neben maßgefertigten Reitstiefeln aus blitzeblank gewienertem Rindsleder, abenteuerlich hoch behackten Damenpumps und kurios geformten Schnabelschuh-Nachbauten, ist in diesem Herbst ein ganz besonderes Unikat ins Ladberger Schuhmachermuseum, dessen Gründer und Leiter Fritz Lubahn ist, eingezogen. Der Chef hebt es sachte aus seiner Originalverpackung, einer ziemlich schlichten, vergilbten Pappschachtel, heraus und lässt seinen Blick stolz auf ihm ruhen: Ein Paar lederne Kinderstiefelchen der Größe 20. Herstellungsjahr: 1941. Herkunftsort: Westerkappeln.
Gut aufgehoben im Museum
„Tja …“, murmelt Lubahn versonnen und betrachtet die Stiefelchen in seinen Händen: „Das ist natürlich eine echte Rarität.“ Eine 70-jährige Dame aus Westerkappeln sei nach einem Besuch in seiner Ausstellung so angetan gewesen, dass sie diese gut gehütete Seltenheit aus eigenen Kindertagen dem kleinen Museum im Außenbereich der Gemeinde Ladbergen, dem einzigen seiner Art im Umkreis, geschenkt habe. „Hier sind sie besser aufgehoben als bei mir zuhause im Schrank“, habe die Seniorin befunden und kurzerhand beschlossen, dass die fein geschnittene Fußbekleidung in einer angemessenen historischen Kulisse fortan ihre eigene Geschichte erzählen sollte. Aber welche Geschichte ist das?
Ein bisschen Fachwissen, ein bisschen Spekulation
Fritz Lubahn wiegt den Kopf hin und her. Mit der Vergangenheit ist das so eine Sache. Ein bisschen Fachwissen, ein bisschen Spekulation – und ganz viel Detektivarbeit. Erster Hinweis: die Original-Pappschachtel. Aus den Zahlen und Buchstaben, die akribisch mit Bleistift auf den Karton gekritzelt sind, liest Lubahn heraus, dass die Stiefelchen tatsächlich vor mehr als siebzig Jahren von einem offenbar äußerst gewissenhaft arbeitenden Schusterkollegen hier in der näheren Umgebung angefertigt worden sein müssen. Sogar der Preis ist noch zu entziffern: 4,55 Reichsmark. Der Museumsleiter dreht das braune Stiefelpaar schaftüber und weist auf die Unterseite – das nächste Indiz: Die Ledersohlen sind makellos. Kein Kratzer und auch nicht die winzigste abgelaufene Stelle. „Während des Krieges waren Schuhe streng rationiert und daher immer knapp und begehrt“, weiß Lubahn, nickt nachdrücklich und schaut einigermaßen ratlos. Denn: „Diese Schuhe hat nie jemand getragen.“
Verschwommene Erinnerungen
Wie gesagt, mit der Vergangenheit ist das so eine Sache. Ein paar vage Erinnerungen, ein paar blumige Anekdoten – und ganz viele alte Geschichten, deren Versionen von Generation zu Generation weiter erzählt und weiter variiert werden. Selbst für die Stiefel-Stifterin aus Westerkappeln haften eher verschwommene Bilder als scharf umrissene Eindrücke an ihrem betagten Schuhwerk. Soweit sie sich entsinne, berichtet sie, habe ihr Großvater die Stiefel erworben, als die Familie Anfang der vierziger Jahre noch in Rheine lebte. Möglicherweise habe der kurz darauf erfolgte Umzug nach Westerkappeln ja vereitelt, dass die guten, neuen Lederstiefelchen an den Füßen der damaligen Enkelkinder, also an ihren eigenen Kinderfüßen, landeten – getragen worden seien sie aber definitiv, schmunzelt die Dame: im Reisegepäck von Rheine nach Westerkappeln.
Von Puppenfüßen und Teddybärentatzen
Als Jahrzehnte später dann ihre eigenen Töchter geboren waren, war die Ära der zwar nach wie vor tadellos aussehenden, aber inzwischen doch recht altbacken daherkommenden Erbstücke unwiderruflich vorbei: Die Schuhmode hatte sich grundlegend geändert – alles war bunter und bequemer geworden. Was allerdings nicht bedeutete, dass die braunen Familienstiefelchen nicht für eine Weile in nahezu täglichem Gebrauch waren: Sie wurden von emsigen Kinderhänden an zierliche Puppenfüße und weiche Teddybärentatzen geschnürt und tapsten zwei glückliche Kindheiten lang in der Wohnung herum. Das ist alles lange her. Doch die Vergangenheit ist gut aufgehoben bei Fritz Lubahn. Mit der Leidenschaft eines Handwerkers und der Erfahrung eines Meisters kümmert er sich nun darum, dass die kleinen braunen Stiefelchen aus Westerkappeln noch manchem Museumsbesucher von den guten, alten Zeiten erzählen, als die Bären noch Schuhe an ihren Tatzen trugen und als es beim Schuster noch nach Leder, Holz und Handarbeit roch.
(Erschienen in: Westfälische Nachrichten, 06.12.2012)