Mit forschen Schritten stiefelt die fünfjährige Greta immer tiefer in den Wald hinein. „Hallo, Weihnachtsbaum!“, ruft sie vergnügt und hopst gekonnt über ein Kaninchenloch, das sich im grünen Moospolster versteckt. Sie saust an einem knorrigen, alten Baumstumpf vorbei. Dann geht es in gebückter Haltung weiter unter den feuchten Ästen einer gedrungenen Fichte hindurch.
„Greta! Hier sind wir doch völlig falsch“, tönt es durch das Dickicht. Das Mädchen blickt sich um und schüttelt, halb entrüstet, halb mitleidig, den Kopf: „Erwachsene …“, seufzt die Fünfjährige, stemmt resolut ihre Fäuste in die Seiten und antwortet über ihre Schulter: „Ach, Mama – gleich da hinten ist er doch schon. Komm schnell weiter!“ Sie nickt ihrem kleinen Bruder Gustav aufmunternd zu – und schon flitzten die beiden geradewegs auf die nächste Lichtung zu.
Orientierung ist gar nicht so leicht…
Annette und Rüdiger Große-Heitmeyer müssen sich ranhalten, um ihrem Nachwuchs auf der Spur zu bleiben. Die Motorsäge in der Hand, ist der Weg durch den dicht bestandenen Forst über holprigen Untergrund ein mittelschweres Abenteuer und erfordert die ungeteilte Aufmerksamkeit der beiden Seester. Die Erwachsenen können kaum Schritt halten, so flink sind Greta und Gustav mit dem Wiederfinden beschäftigt. Ein paar Tage zuvor waren Annette Große-Heitmeyer und ihre Kinder schon einmal hierher ins benachbarte Ledde gefahren, um die Christbaum-Lage vor Ort gründlich zu sondieren und eine Vorauswahl zu treffen.
Von Nordmann- bis Nobilistanne
Auf einer Fläche von drei Hektar betreibt Josef Glasmeyer seinen Weihnachtsbaumverkauf. Seit fast vierzig Jahren macht der Mann aus Lengerich das schon. Nordmanntannen. Nobilis-Tannen. Blaufichten. Die meisten Bäume für den Verkauf sägt er selbst ab. Für 20 bis 25 Euro wechseln die Fichten und Tannen ihren Besitzer. „Aber es kommen auch immer wieder Familien, die ihren Baum selbst schneiden wollen“, berichtet er. Egal ob hoch gewachsen oder zierlich, ausladend oder schlank – in seinem Wald, da ist der 69-Jährige gewiss, findet jeder den passenden Weihnachtsbaum.
Abseits der Schneisen
Auch Annette Große-Heitmeyer und ihre Kinder haben bei ihrem ersten Besuch in der Glasmeyerschen Schonung auf Anhieb ihren Wunschbaum entdeckt. Ziemlich weit abseits der Schneisen erblickte die Familie in der Abenddämmerung und im Schutze einiger riesiger Fichten eine hübsche Nordmanntanne. Annette Große-Heitmeyer hatte ein Auge zugekniffen und zwischen Daumen und Zeigefinger am gestreckten Arm das Exemplar von der Spitze bis zum Boden gepeilt. Rund vier Meter hoch, befand die Seesterin mit geübtem Auge. Unten herum etwas Spielraum zum Kürzen – mithin genau das richtige Maß für das 3,60 Meter hohe heimische Wohnzimmer. Ganz urig draußen in der Natur den eigenen Baum zu schlagen hat bei den Große-Heitmeyers Tradition: Weder sie noch ihr Mann können sich daran erinnern, jemals einen Christbaum in der Wohnung gehabt zu haben, der nicht von ihnen selbst gesägt worden wäre. „Das gehört einfach dazu“, sagt die Seesterin und guckt vergnügt. „Und für die Kinder ist das etwas ganz Besonderes – die Vorfreude auf Weihnachten steigert sich immer weiter.“
Ziemlich groß und ziemlich grün
Die entscheidende Frage aber bleibt: Wo ist er denn nun, der im Vorfeld ausgesuchte und mit Namensschild reservierte Baum? „Na, hier natürlich“, jubelt Greta – und Gustav steht mit zufriedenem Blick neben seiner Schwester vor einer schmucken Tanne, lindgrün, die Äste sanft geschwungen, der ganze Baum von bestechend vitalem Wuchs. Rüdiger Große-Heitmeyer beäugt den Kandidaten mit kritischem Blick: „Hier hinten“, befindet er, „ist er etwas dünn.“ Seine Frau tritt skeptisch näher. So wie die Tanne sich jetzt im hellen Tageslicht präsentiert, regen sich auch bei ihr leichte Zweifel: „Hm, da fehlen tatsächlich ein bis zwei Äste“, murmelt die Seesterin besorgt. Greta verdreht die Augen: „Erwachsene …!“ Der dreijährige Gustav strahlt die Tanne indes ganz versonnen an. Aus seiner Perspektive sehen die Bäume hier womöglich alle gleich aus: ziemlich groß, ziemlich grün und einer wie der andere recht pieksig.
Nicht der Richtige?
Aber, nein, man merkt es ihnen an – die „Großen“ sind noch nicht wirklich zufrieden. Unter all diesen vielen, vielen Tannenbäumen, da wird es doch den einen geben, der rundum und von allen Seiten perfekt in ihr Wohnzimmer passt. Rüdiger Große-Heitmeyer stellt die Motorsäge ins Moos, sieht seine Frau entschlossen an – und dann wandern sie erneut hinein: in den tiefen, dunklen Weihnachtsbaum-Wald.
Kinder an die Macht!
„Also in Bullerbü“, erläutert Greta derweil, „da gehen ja immer die Kinder gemeinsam in den Wald.“ Sie reißt die Augen auf und betont nochmal zum Mitschreiben: „Nur die Kinder! Und die sägen dann die drei Weihnachtsbäume für den Süd-, den Nord- und den Mittelhof ab.“ Beneidenswert heile Welt in Bullerbü. Bloß hier in Westfalen, da müssen sich die Erwachsenen einmischen und alles unnötig kompliziert machen.
Am Ende dann doch…
Während die erwachsenen Große-Heitmeyers in der nächsten Dreiviertelstunde abwechselnd vor verschiedenen Fichten und Tannen im Umkreis von hundert Metern verharren, um sich gegenseitig auf die Nachteile der einzelnen Bäume aufmerksam zu machen, bleiben Greta und Gustav mit siegesgewissem Lächeln in der Nähe ihrer zwar nicht vollkommen symmetrischen, aber unbestritten bezaubernden Weihnachtstanne. Und sie kehren ihren Triumph auch nicht unnötig heraus, als die Eltern endlich erschöpft und ernüchtert wieder zurück gestapft kommen und zugeben, dass es nirgendwo einen schöneren Weihnachtsbaum gibt also genau diesen hier. Greta grinst. Ihr Vater wirft die Säge an – und das Schicksal der Nordmanntanne ist besiegelt.
Eine Tanne von erhabener Würde
Einen Tag später steht der Baum im Ständer. Noch ganz schlicht und kahl – und dennoch von erhabener Würde und stattlicher Gestalt. Die Große-Heitmeyers haben den alten Schmuck vom Boden geholt – lauter rote und goldene Kugeln – und Gustav und Greta können es kaum abwarten, die Trittleitern zu erklimmen und gemeinsam mit den Eltern ihre Tanne für den Heiligen Abend vorzubereiten. Die Stelle, an der der Baum etwas spärlicher begrünt ist, hat man geschickt zur Zimmerwand hin ausgerichtet. Greta hängt eine hübsch verzierte Kugel an einen Zweig und erklärt fröhlich: „Dann sieht das Christkind gar nicht, dass unser Weihnachtsbaum da keine Äste hat.“ Aber selbst, wenn das Christkind heute Abend den kleinen Makel bemerken sollte, wird es doch bloß darüber schmunzeln und sich freuen, mit wie viel Einsatz und Umsicht dieser prächtige, glänzende und sehr natürlich gewachsene Weihnachtsbaum gesucht und gefunden worden ist.
(Erschienen in: Westfälische Nachrichten, 24.12.2012)